oder einem anderen schlimmen Schicksal ausgesetzt wären. Deshalb erlaubten sie dem Mann, das Haus kurz zu betreten, und später, sich vom Tatort zu entfernen, obwohl er offensichtlich über Informationen verfügte, die den Ermittlern weitergeholfen hätten. Darüber hinaus entschieden sich die Beamten dafür, ihre Vorgesetzten nicht über das Zwischenspiel in Kenntnis zu setzen. Der Mann stieg dann wieder auf das Fahrrad und entschwand in der dunklen Nacht. Später sah Teyssier ein Foto des Arztes, dem das luxuriöse Gebäude gehörte, das von einigen als Villa bezeichnet wurde. Als er erkannte, dass dieser Mann niemand anderes als Marcel Petiot selbst war, versteinerte sich seine Miene.
Am entgegengesetzten Ende der Stadt, in einem Haus am Boulevard Diderot 48–50, hatte Kommissar Georges-Victor Massu, der Leiter der Mordkommission, gerade das gemeinsame Abendessen mit seiner Frau Mathilde und dem 21-jährigen Sohn Bernard beendet. Massu machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem, um über die Ereignisse des Arbeitstags zu berichten: ein Diebstahl, ein Fall tätlichen Angriffs, Berichte an die Vorgesetzten, Verhöre und die scheinbar nie enden wollende Flut an Papierkram. Bernard, der an der Pariser Universität Jura studierte, hatte sich zur Vorbereitung der anstehenden Prüfungen auf sein Zimmer zurückgezogen.
Nur wenige Minuten vor 22 Uhr – Massu war gerade ins Bett gegangen – läutete das Telefon. „Ich kann mich heute noch an den Anruf und das schrille Klingeln erinnern“, erzählte er viele Jahre später. Ein Anruf um diese Tageszeit – das konnte nur eines bedeuten! Und das war nicht – wie er sich ausdrückte – „wieder so eine Messerstecherei in der Nähe des Montmartre“. Massu nahm den Hörer mit der unbeweglichen Miene eines Kartenspielers ab, der versuchte, einen gerissenen Falschspieler zu bluffen.
Am anderen Ende der Leitung hörte er die Stimme des Sekretärs Canitrot von der Mordkommission. Ohne nähere Details des Leichenfundes in der Rue Le Sueur preiszugeben, drängte Canitrot seinen Chef, so schnell wie möglich zum Tatort zu kommen, und schickte einen Wagen, um ihn abzuholen. Nur 15 Minuten später wartete ein langer schwarzer Citroën 11 CV vor Massus Wohnung. Der Chauffeur salutierte dem Kommissar vermittels der an der Mütze angelegten Hand.
Wie so oft bei wichtigen oder interessanten Fällen wollte Bernard seinem Vater bei den Ermittlungen auf Schritt und Tritt folgen. Und der Kommissar hatte zugestimmt. Massu, ein kräftiger Mann von 55 Jahren mit wallendem schwarzen Kopfhaar und einem dunklen Bart, hatte den schwarzen Übermantel angezogen und sich einen grauen Filzhut aufgesetzt. Vater und Sohn, beide wegen der kühlen Nacht warm angezogen, ließen sich dann durch die Stadt chauffieren, die noch vor Jahren das Ebenbild sprudelnder und überschäumender Lebensfreude gewesen war. In dieser Nacht wirkten die Straßen laut Massu aber „nüchtern und verlassen“.
Paris litt nun schon seit vier Jahren unter der Schreckensherrschaft der deutschen Besatzungsmacht. Große rote und weiße Fahnen mit tiefschwarzen Hakenkreuzen wehten am Eiffelturm, dem Triumphbogen und ähnlichen für die Metropole charakteristischen Wahrzeichen und Gebäuden nahe Petiots Villa. Die wenigen Menschen, die sich nach der Sperrstunde noch auf der Straße aufhielten, waren Deutsche, „Freunde der Besatzer“ und die sogenannten „Nachtarbeiter“. Ein Bordell, exklusiv für hochrangige Nazioffiziere, befand sich, von Petiots Anwesen aus gesehen, in einer Seitenstraße gleich um die Ecke.
Massus Wagen fuhr auf das Gebäude Rue Le Sueur Nummer 21 zu und parkte. Eine einzige Laterne, wegen des Verdunklungserlasses fast vollkommen abgedeckt, warf ein trübes bläuliches Licht auf die vor dem Haus stehenden Polizeibeamten, die – wie Massu richtig erkannte – bei den Nachbarn in der Straße eine beklemmende Neugier erregten. Einige seiner Leute hielten die Anwohner in Schach, die sich eingefunden hatten, andere folgten ihm in das Gebäude. Alle paar Minuten erschienen neue Beamte vor Ort.
Massu betrat das Haus. Die Villa verfügte über einen großen und einen kleinen Salon, einen imposanten Speiseraum, ein Zimmer, in dem ein Billardtisch stand, eine Bibliothek und sechs Privatgemächer, darunter die Schlafzimmer und zwei Küchen. Das Anwesen hatte ursprünglich der Prinzessin Marie Colloredo-Mansfeld gehört, einer 67-jährigen Französin. Die Familie ihres Mannes vererbte den kaiserlichen Titel schon seit 1763. Noch in den Dreißigern lebte im Haus dann die französische Schauspielerin Cécile Sorel, Comtesse de Ségur, ihres Zeichens Doyenne der Comédie Française, wie ein Concierge aus der Nachbarschaft berichtete.
Der derzeitige Besitzer war der Öffentlichkeit indes nicht so bekannt wie die Prinzessin oder die Schauspielerin. „Der Name Marcel Petiot sagte mir gar nichts“, musste Kommissar Massu später zugeben. Er hörte ihn an diesem Tag zum ersten Mal.
Doch eines erkannte Massu auf den ersten Blick – der Besitzer war ein leidenschaftlicher Sammler erlesener Kunstgegenstände. In den meisten Räumen fanden sich kristallene Kronleuchter, orientalische Teppiche, antike Möbel, Marmorstatuen, Vasen der Manufaktur Sèvres und Ölgemälde in vergoldeten Rahmen. Allerdings wirkten die prunkvollen Kunstwerke vernachlässigt. Sie waren staubig, und Spinnweben hingen an ihnen. Möbel lagen umgestürzt auf dem Boden oder standen gestapelt in Ecken, was schnell an einen Trödelmarkt denken ließ. In verschiedenen Räumen und Fluren hing die Tapete von der Wand herunter, die Fußleisten waren losgerissen und Panelen lugten aus der Wandverkleidung hervor. Massu entdeckte exquisite Möbel aus der Zeit Ludwigs XV., die neben verdreckten Chaiselongues standen, bei denen man schon die hervorstehenden Federkerne sah.
Als ein Polizeibeamter die Warnung aussprach, dass der Fall sich als hochgradig schockierend erweisen würde, beeindruckte das Massu nicht im Geringsten. Er hatte das schon zu oft gehört. Zu Beginn fast jeder neuen Ermittlung bemerkte ein Beamter, dass man hier einem entsetzlichen Verbrechen auf der Spur sei. Massu hegte auch keinen Zweifel daran, denn als Chef der Mordkommission war er die Untersuchung schrecklicher und verstörender Fälle gewohnt.
Doch der sich ihm bietende höchst makabere Anblick im Keller der Rue Le Sueur Nummer 21 versetzte sogar Massu einen Schlag: Sein Blick fiel auf ein halbverbranntes Schädelfragment im Ofen und einen Haufen aus Schienbein- und Oberschenkelknochen sowie weiteren Skelettstücken. Er sah einen Fuß, „tiefschwarz wie ein langsam verbrannter Holzscheit“. Eine abgetrennte Hand, deren Finger sich zu einer Faust geballt hatten, schien „voller Verzweiflung in der Luft zu gestikulieren“. Der Torso einer Frau lag herum, bei dem das Gewebe „weggerissen schien, was die Splitter des zerschmetterten Brustkorbs erkennen ließ“. Der Gestank – „ein böser Geruch gerösteten menschlichen Fleischs“ – drang unerbittlich in Massus Nase.
Nur wenige Schritte entfernt fand er eine Schaufel, ein mit einer dunklen Substanz verschmiertes Beil und, verborgen unter der Steintreppe, einen grauen Sack, der die linke Seite einer verwesenden Leiche enthielt, jedoch nicht den Kopf, den Fuß und die inneren Organe. Massu wusste nicht, wie er den grauenerregenden Ort beschreiben sollte, ohne die mittelalterliche Literatur zu zitieren. Der Keller der eleganten Villa ähnelte einer Szene aus Dantes Inferno.
Massu machte sich zusammen mit Bernard auf den Weg in den engen Innenhof. Dort traf er einige Ermittler, darunter Oberinspektor Marius Battut. Gemeinsam betraten sie eines der kleineren hinteren Gebäude. Im ersten Raum standen ein polierter Schreibtisch mit zwei Ledersesseln, ein gemütliches Sofa und ein kleiner Rundtisch, auf dem Magazine lagen. Ein großer Schrank voller Arzneimittel befand sich an einer Wand. Genau gegenüber hing ein Bücherschrank mit gläsernen Türen, in dem sich Sachbücher zum Thema Medizin aneinanderreihten. Den Kommissar verblüffte die Ordnung des Raums. Er befand sich in einem weitaus besseren Zustand als die meisten Zimmer der stattlichen Villa und war wesentlich sauberer und aufgeräumter. Auch schien er erst kürzlich renoviert worden zu sein. Massu öffnete eine zweite Tür neben dem Bücherschrank, die in einen schmalen Korridor führte, ungefähr 90 Zentimeter breit. Am Ende des Ganges lag eine weitere Tür, gesichert mit einer dicken Kette und einem massiven Vorhängeschloss. Die Ermittler verschafften sich Zutritt zu dem dahinterliegenden Raum. Es war eine kleine, fast dreieckige Kammer mit sehr dicken Wänden. Eine der Wände war mit einer beigen Tapete beklebt, die anderen hatte man lediglich verputzt. Es gab weder Fenster noch Möbel, sondern nur zwei nackte Glühbirnen und eine schlichte Pritsche aus Metall. In den Ecken, ungefähr einen Meter unterhalb der Decke, hatte man an den Wänden eiserne Haken befestigt.
Eine Doppeltür am Ende des Raumes, der Rahmen mit Blattgold verziert, schien sich zu einem großen Salon hin zu öffnen. Als einer der Inspektoren