kurz zu vergessen, wenn auch nur für ein paar Stunden. An diesem schönen Abend duftete die Luft nach Blumen und frischgemähtem Gras, und Jim traf in Jins Wohnzimmer eine dunkeläugige, ruhige Frau – Mary Mohin.
Vielleicht wäre gar nichts weiter geschehen. Die kleine Feier sollte sich auf die späten Nachmittagsstunden beschränken, und es war nicht vorgesehen, dass das übliche Abendessen bis nach Einbruch der Dunkelheit dauern sollte. Doch dann heulten die Sirenen auf den Dächern. Die ganze Gesellschaft flüchtete in den Keller bei Jin und Harry – Licht aus, aber den Sekt nicht vergessen! – und rückte in der Dunkelheit zusammen. Meist gab es nur wenige Minuten später wieder Entwarnung, und der Alarm dauerte nie länger als ein oder zwei Stunden. Also warteten die McCartneys und ihre Freunde ab. Jim saß die ganze Zeit neben Mary, redete mit ihr, machte Witze, zündete ihr die Zigaretten an und gab sich alle Mühe, für eine einigermaßen lockere Stimmung zu sorgen. Er brachte sie zum Lachen, und er wirkte sehr charmant – vor allem aber, wie sie später sagte, angenehm „unkompliziert“2. Sie heirateten am 15. April 1941 in der katholischen Kapelle St. Swithin’s in West Derby und bezogen eine möblierte Wohnung in der Sunbury Road im Liverpooler Stadtteil Anfield.
Der erste Sohn wurde am Abend des 18. Juni 1942 geboren – dank Marys Beziehungen in relativ luxuriöser Umgebung auf der privaten Wöchnerinnenstation des Walton-Hospitals, in dem sie früher gearbeitet hatte. Ihre ehemaligen Arbeitskolleginnen ermöglichten es außerdem, dass Jim auch außerhalb der Besuchszeiten schon kurz nach der Geburt einen ersten Blick auf seinen Sohn werfen konnte. Leider hatte niemand daran gedacht, Jim darauf vorzubereiten, dass ein Neugeborenes durch die Überreste der Plazenta und die Anstrengung des Geburtsvorgangs nicht unbedingt ein hübscher Anblick sein muss. Der frischgebackene Vater war schockiert und entsetzt. „Er sah aus wie ein Stück rohes Fleisch“, erinnerte sich Jim. „Er hatte nur ein Auge offen, und er quäkte die ganze Zeit.“3 Ein Bad (für den Kleinen) und eine Runde Schlaf (für den Vater) verbesserten die Lage merklich, und als James Paul McCartney nach Hause in die möblierte Wohnung seiner Eltern in Anfield gebracht wurde, sah Jim schon nicht mehr so schwarz. „Am Ende war er doch ein recht hübsches Baby.“4
Da sie nun zu dritt waren, zog die Familie zunächst nach Wallasey, einem Stadtteil, der am anderen Merseyufer auf der Halbinsel Wirral lag; das Haus wurde von der Liverpooler Stadtverwaltung günstig vermietet. Die McCartneys wohnten dort nur wenig länger als ein Jahr, denn im Januar 1944 bekamen sie mit Peter Michael (der ebenfalls bei seinem zweiten Vornamen gerufen wurde) einen weiteren Sohn, und nun stand ihnen eine größere Wohnung zu, diesmal in einem modernen Häuserkomplex in Knowsley. Noch einmal zwei Jahre später zogen sie in eine von der Stadt errichtete, neue Siedlung in Speke im Süden der Stadt um. In der Nachbarschaft wurde noch gebaut, und so fuhren die beiden McCartney-Jungs auf ihren Fahrrädern über schlammige, ungeteerte Straßen, jagten ihre Freunde über freie Bauplätze und durch halbfertige Häuser bis in die Felder und die kleinen Wäldchen.
Nach Kriegsende kam wieder Leben in die Stadt, und mit der Reprivatisierung der Baumwollbranche und der Wiedereröffnung der Firma Hannay’s erhielt Jim seinen früheren Job zurück. Aber Liverpool war immer noch von den Narben des Kriegens gezeichnet, und die Wirtschaft lag am Boden. Der einst so blühende Baumwollhandel war auf die Hälfte seines früheren Umfangs geschrumpft, und entsprechend geringer fiel nun auch Jims Einkommen aus. Mary hatte ihre Stelle im Krankenhaus gegen die flexiblere, wenn auch unregelmäßigere Arbeit einer Familienhebamme eingetauscht, aber ihr Job garantierte ein festes Einkommen, das Jims Lohn bei weitem überstieg, und ermöglichte ihnen so weitere Vergünstigungen wie etwa den Zugang zu den besseren Wohnungsbauprojekten der Stadt. Zusammen verdienten Mary und Jim genug, um Nahrung und Kleidung für die Familie zu kaufen; gelegentlich blieb sogar noch etwas übrig für den einen oder anderen kleinen Luxus.
Jim und Mary, die beide aus der untersten Arbeiterschicht stammten, erschien das Leben, das sie führten, wenn schon nicht wie ein Traum, so doch zumindest wie der Schritt in die richtige Richtung. Manchmal, wenn sie mit den Jungs für einen Tag an den Strand von New Brighton fahren konnten, einmal im Jahr eine Woche Urlaub in einem Ferienlager in Wales machten oder bei einer musikbeseelten Familienzusammenkunft der McCartneys saßen, konnte das Leben wie das Paradies erscheinen. Und so wäre es auch gewesen, hätten sie nicht gewusst, welcher Schatten den Himmel bereits verdunkelte.
Kurz nach Mikes Geburt im Jahr 1944 war Mary wegen schmerzhafter Schwellungen in der Brust wieder ins Krankenhaus gekommen. Man behandelte sie wegen einer Entzündung der Brustdrüsen, wie sie bei jungen Müttern häufig vorkam. Heute wissen die Mediziner jedoch, dass dieselben Symptome auch auf Brustkrebs hindeuten können. Die Schwellungen gingen zwar wieder zurück, aber Mary war nie wieder dieselbe. Ein Arztbesuch 1948 brachte eine wesentlich ernstere Diagnose – Brustkrebs. Zwar war die Krankheit noch im Frühstadium, aber Mary verfügte über genügend medizinische Kenntnisse, um sich darüber klar zu sein, dass die Zeit, die ihr noch blieb und die sie noch mit ihrer Familie verbringen konnte, begrenzt sein würde. Sie und Jim hielten sich an die alte McCartney-Maxime und blickten nach vorn. Wenn die Dinge besonders finster aussahen, streckte Jim eine Hand aus und flüsterte einen alten Familienspruch: Put it there, if it weighs a ton – leg alles dort ab, was dich tonnenschwer bedrückt.
Die Zeit verging. Die kleinen McCartney-Brüder wuchsen heran und entwickelten sich zu lebhaften Jungen, deren Streiche bald Erzählstoff für neue Familienanekdoten bildeten. In ihrer Grundschulzeit erwischte ein Bauer die beiden einmal beim Äpfelklauen und sperrte sie so lange in einem Schuppen ein, bis Jim, dem ein paar Freunde der Jungs, die entwischt waren, Bescheid gesagt hatten, dort erschien und sich entschuldigte. Dramatischer war jedoch eine andere Geschichte, als Paul und Mike das väterliche Verbot ignorierten, sich von einer alten, gefluteten Kalkgrube fernzuhalten, und prompt beide hineinfielen. Aus eigener Kraft konnten sie nicht wieder herausklettern, dazu waren die Wände zu steil und glatt. Hilflos traten sie so lange Wasser, bis zufällig ein Bauarbeiter an der Unglücksstelle vorbeikam und sie herauszog.
„Die McCartney-Brüder waren ziemliche Rabauken“, berichtete ihr Cousin John Monin5. Aber davon abgesehen waren sie liebe Jungs und recht gewitzt, und sie hatten beide die funkelnden Augen ihres Vaters geerbt. Vor allem Paul war das Ebenbild Jims in jungen Jahren, von den elegant geschwungenen Augenbrauen bis zur schmalen Nase und den weichen, beinahe weiblichen Lippen. Ihm waren auch das gewinnende Lächeln und das einschmeichelnde Wesen seines Vaters eigen, und er nutzte beides gern, um sich in Schwierigkeiten hinein- oder auch wieder herauszureden. „Er war schon damals ein Charmeur“6, erinnerte sich Tony Bramwell, der in Speke in der Nähe aufwuchs und zu den Kindern gehörte, die damals mit Paul herumtollten. „Er war immer diplomatisch und sehr freundlich.“ Auch war er sich seiner Wirkung auf andere sicherlich schon bewusst, wenn er seinen Charme einsetzte, um andere zu beschwichtigen, vor allem, wenn er bei seinen Streichen wirklich etwas angestellt hatte. „Er konnte die Leute richtig um den Finger wickeln“7, erinnerte sich ein Verwandter.
Paul hatte jedoch auch eine in sich gekehrte Seite und ein starkes Verlangen nach Einsamkeit. Wenn ihm das Geschrei seiner Freunde auf die Nerven ging, sprang er auf sein Fahrrad und fuhr in den nahe gelegenen Wald, in dessen Schatten er eintauchte, wo er die Tiere beobachtete und in seinem abgewetzten Vogelkundebuch „Observer Book of Birds“ blätterte, wenn ein interessantes Exemplar durch das dichte grüne Blätterdach flatterte. Wenn er hörte, dass andere Leute kamen, suchte er sich einen kräftigen Baum und schwang sich hinauf, bis er einen Ast fand, auf dem er ruhig sitzen bleiben und die Welt unter sich vorbeiziehen sehen konnte. „Ich war sowas wie der Superspion, der stille Beobachter, der Scharfschütze“8, erinnerte er sich.
In den Straßen von Speke hielt Paul außerdem vorsichtig Ausschau nach den Jugendbanden, die durch die Wohnquartiere der Arbeiterklasse streiften. Wenn diese harten Jungs auftauchten, war es besser, auf die andere Straßenseite zu wechseln oder sogar einen Umweg um den Block zu machen, bevor man an der nächsten Ecke Prügel bezog. Dennoch erwischten die Schläger die McCartney-Brüder eines Tages am Merseyufer, und es kam schnell zum unausweichlichen Schlagabtausch. Was haste dabei? ’Ne Uhr? Her damit, Kleiner, die nehm’ ich. Paul und sein Bruder rannten tränenüberströmt nach Hause, aber damit war die Angelegenheit nicht erledigt. Paul wusste, wer die Jungs gewesen waren – wenn auch nur zufällig, weil sie in der Nähe wohnten und ihr Grundstück rückwärtig an das seiner Eltern grenzte. Als Jim nach Hause kam, erzählte