Dennis Dunaway

Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl


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funkelnden Augen, die ihn über die Lesebrille hinweg anstarrten, ihn regelrecht ins Visier nahmen und dabei signalisierten, dass sie hier das Kommando führte.

      Vince eilte der Ruf voraus, seinen Kopf durch Scherze und Witzeleien aus der Schlinge zu ziehen. Und nun wartete die Klasse gespannt. Mrs. Sloan war attraktiv und allgemein beliebt, doch auch für ihre unnachgiebige Haltung bekannt. Und nun wurde sie herausgefordert.

      Vince’ Augen vergrößerten sich bei der Imitation des Fernsehstars Barney Fife. Er hauchte ein stimmloses „Sorry“. Im Moment ähnelte er einem Schauspieler im grellen Scheinwerferlicht, der sich mit Leichtigkeit in einen Inspektor Clouseau, Stan Laurel oder einen weiteren Charakter seines Repertoires aus gut einem Dutzend Darstellern verwandeln konnte. Aber er spielte den ängstlichen Gesetzeshüter, hob den Stuhl unmerklich an und rutschte über den Boden zu mir herüber. In einer entfernten Ecke des Raums hörten wir jemand losprusten. Es war Maurice Kluff, ein Junge, der ständig knallig orangefarbene Socken trug. Mrs. Sloan würgte ihn mit ihrem tödlichen Starren augenblicklich ab.

      Die Klasse beruhigte sich wieder. Vince und ich blätterten in einem schweren Schinken über moderne Kunst. Für uns war es eine Art Piratenschatz. Wir stießen auf ein Sigmund-Freud-Gemälde von Salvador Dalí, im surrealistischen Stil gehalten, lebhaft und anregend. Vince schaute zur nächsten Abbildung und deutete mit dem Finger auf jedes einzelne Wort des Titels: „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs“. Er lachte und murmelte: „Gekochte Bohnen?“

      Ich legte den Kopf auf die Faust und studierte das Werk aus der Nähe. Vince machte es mir nach, womit wir ideale Modelle für die Skulptur „Der Denker“ abgegeben hätten.

      Bevor ich zu einer großartigen Schlussfolgerung gelangte, nickte Vince mit dem Kopf. Er ähnelte einem der Wackel-Dackel, die unvermeidlich auf der hinteren Ablage eines Chevy standen.

      „Geschickt“, sagte er.

      „Wirklich geschickt“, ergänzte ich seine Einsicht.

      Auf der nächsten Seite zeigte ein weiteres anregendes Dalí-Gemälde eine grotesk verformte Struktur, die wie ein zusammengeworfener Haufen Körperteile anmutete. Auf ihr ruhte ein abgrundtief hässlicher Kopf. Doch sofort entdeckte Vince die Figur von Freud. Sie glich dem des vorigen Gemäldes, war nur kleiner. Der winzige Freud wirkte im Kontext der ausgearbeiteten Vision Dalís noch beeindruckender.

      Was geschah in dem Moment der Entdeckung? Ich möchte behaupten, wir wussten, dass etwas Großes stattgefunden hatte. Etwas hatte sich verändert.

      Ich wurde im Herbst 1961 in die Cortez High eingeschult. Die gerade erst eröffnete Schule lag am nördlichen Rand von Phoenix und besaß noch keine Klimaanlage. Jedes Klassenzimmer glich einem Hochofen. Die Schulregeln waren noch nicht festgeschrieben, woraufhin die Kids die ganze Zeit die Grenzen austesteten und sie zu überschreiten versuchten.

      Ich trat dem Leichtathletik-Team bei. Coach Emmett Smith bemerkte sofort mein Talent für den Langlauf. Glorreiche Zeiten. Schnell fand ich heraus, dass Geländerennen genauso beliebt waren wie die Wettkämpfe auf der Aschenbahn, bei denen wir uns abrackerten. Zuschauer? Nein, während des Trainings schaute niemand zu – mal abgesehen vom Hausmeister und seinem Hund.

      Im Team begegnete ich einem meiner zukünftigen Musikerkollegen. John Speer hatte lockiges dunkles Haar, einen großen und breiten Brustkorb und den Körperbau eines Bullen. Ihn zeichnete ein Gespür für Humor aus, obwohl dieser von dunklen Wolken des Pessimismus getrübt wurde. Zwischen uns entwickelte sich eine kollegiale Rivalität.

      Nicht jeder auf der Cortez kam so gut über die Runden wie die Jungs unseres Teams. Oftmals regelten die Schüler ihre Differenzen mit den Fäusten nach dem Unterricht. Jeder, der sich einen Ruf erkämpfen wollte, wenn auch einen fragwürdigen, musste sich regelmäßig auf dem Schulparkplatz beweisen.

      Der schlimmste Unruhestifter der Schule war ein stämmiger, Hulk-ähnlicher Typ namens Ruben. Er hatte drei ältere Brüder, die ihn nach dem Unterricht abholten. Wenn die sich in den weißen Corvair drängten, hing die Karosserie fast auf dem Boden. Die Brüder warfen stechende boshafte Blicke aus dem Wagen, der einem Nest voller Klapperschlangen glich.

      Rubens Lieblingsschikane lief folgendermaßen ab: Er kam mit ausgestreckter, nicht abzuschlagender Pranke auf dich zu, quetschte dann deine Hand, bis du voller Qualen auf die Knie gingst, zog dich zum Mülleimer und stopfte dich da rein. Deine Schmerzen bereiteten ihm Freude.

      Dann aber tauchte ein spindeldürrer Neuling namens Vince Furnier auf. Er war mit Sicherheit der ungefährlichste Mensch auf dem ganzen Planeten. Ruben fand das lustig. So rekrutierte er Vince als „Zwangs-Freiwilligen“ seines Terrorregimes des brutalen Händedrucks. Wenn die beiden Seite an Seite standen, ähnelten sie den Comic-Figuren Tweety Bird und Spike. Ruben versuchte sich hinter Vince zu verbergen, seiner knochigen Gestalt, die die unschuldige Beute anlockte.

      Vince stellte den vorbeigehenden Kindern Ruben vor, der mit erhobener Hand grinsend aus seinem Versteck kam. So lange Ruben genügend Unterhaltung hatte, war sein Knecht vor dem „Handschlag aus der Hölle“ sicher. Er schien Spaß an der Rolle als Lockvogel für nichtsahnende Kinder zu haben. Es war ja nicht seine Schuld, denn letztendlich wurde er von Ruben gezwungen.

      Auf der Schule betrachtete man den Journalismus-Kurs als „Mädchen-Ding“. Natürlich meldete ich mich dazu an, was zugleich das Verfassen von Beiträgen für die Studentenzeitung Tip Sheet bedeutete. Die Mädchen sahen mich als merkwürdigen „Abweichler“ und ließen mir die spezielle Behandlung zukommen, die da überschwängliche Fürsorge lautete. Oh ja, ich war ein böser Junge. Sie wollten nicht, dass ich mich angesichts des bevorstehenden Redaktionsschlusses stresste, und schrieben demzufolge die Storys für mich. Für einen Text gewann ich sogar einen Preis.

      Auch die Jungs auf dem Campus verordneten mir eine Sonderbehandlung: Sie schimpften mich einen Homo. John Speer nahm mich besonders aufs Korn. Doch nach einiger Zeit, in der ihnen klarwurde, was für ein kuschliges Leben in einer Klasse voller süßer Mädels ich führte, realisierten Speer und die anderen Gammler mein Genie. Vince meldete sich natürlich so schnell wie möglich für den Kurs an und leitete das Sport-Ressort des Tip Sheet.

      Obwohl ein Jahr jünger, war Vince ein ausgeprägter Charakter, zu dem ich mich augenblicklich hingezogen fühlte. Freunde zu gewinnen, schien für ihn mühelos zu sein. Er begab sich nicht auf die Suche, musste nicht mal einen Raum durchqueren. Er zog die Menschen mit seinem Magnetismus förmlich an.

      Als wir uns begegneten, war seine Familie gerade aus Detroit nach Phoenix gezogen, was nur den letzten Umzug in einer ganzen Reihe von Wohnortwechseln bedeutete. Ein Junge, dessen Familie ständig umzieht, auf permanenter Durchreise ist, der lernt, wie man alte Freunde schnell vergisst und neue gewinnt. Doch manchmal ist die Anpassung auch überaus schwierig: Vince’ ältere Schwester Nickie etwa verarbeitete die Umzüge durch das Vermeiden jeglicher Form von Freundschaft. Damit verringerten sich die traurigen Abschiede, die sie ertragen musste.

      Vince hingegen verhielt sich konträr zu seiner Schwester. Egal, wo auch immer er sich befand, behandelte er alle wie Freunde. Er unterhielt sich mit jedem über jedes beliebige Thema. Blitzschnell erkannte er, was sein Gegenüber hören wollte, und plauderte es aus, auch wenn er die Wahrheit ein wenig strapazierte. Man könnte sogar behaupten, dass ihm Übertreibungen zusagten. In seiner Welt war die gute alte Wahrheit viel zu langweilig, und so kleidete er sie in ein schilderndes Kostüm. Jedoch wusste er genau, wie weit er mit den Ausschmückungen gehen konnte.

      Man muss bedenken, dass sich sein Vater, ein Luftfahrtingenieur, auch als Pfarrer engagierte. (Er war aber trotzdem ein cooler Typ, mit einer höchst interessanten Frisur und einem bleistiftdünnen Oberlippenbart, der ihn wie einen Spieler auf einem Schaufelraddampfer erscheinen ließ. Witzig: Auf vielen von Vince gezeichneten Skizzen trugen die dargestellten Personen Oberlippenbärte!) Von Haus aus mit einer gehörigen Portion Religion konfrontiert, glaubte Vince an ehrliches Verhalten und hätte demzufolge niemals gelogen. Das war jedoch nicht nur Folge des Respekts vor seinem Vater, auch Vince teilte denselben Glauben. Dennoch – ich habe schon darauf hingewiesen – hatte Vince ein ständiges Bedürfnis nach Übertreibung, was er als einfachen Weg empfand, um die Wahrheit ein