Charles R Cross

Jimi Hendrix


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      Schon bald gestaltete sich das Leben im Haushalt der Hendrix’ allerdings so kompliziert, dass selbst Jimi das Piepen verging. Zu diesem Zeitpunkt gab es drei Kinder: Jimi, Leon und Joe; die beiden Mädchen befanden sich bereits bei Pflegefamilien. Lucille hatte gegen den Alkoholismus zu kämpfen, ebenso Al, der wieder einmal keine feste Anstellung fand. Obwohl es bereits zahllose scheinbar unüberwindbare Probleme gab, zerbrach die Familie letztlich doch über der Frage, was mit Joe Hendrix geschehen sollte. Lucille hegte die Hoffnung, der damals dreijährige Joe könne nach seiner Beinoperation wieder bei der Familie leben. Doch Al blieb unerbittlich. Wiederholt behauptete er, er könne sich die Operation nicht leisten. Lucille hatte bereits zwei Töchter weggeben müssen und konnte die Vorstellung, jetzt auch noch Joe zu verlieren, der bereits seit drei Jahren bei ihnen lebte, nicht ertragen. Später behauptete sie, Al habe seine Entscheidung aus Gemeinheit und Geiz getroffen. „Al sagte, er wolle nicht so viel Geld in ein Kind stecken“, erinnert sich Delores, „nicht mal dann, wenn er die Kohle hätte.“

      Im Spätherbst 1951, kurz nach Jimis neuntem Geburtstag, verließ Lucille Al. Al war am Boden zerstört und erzählte später, er habe sie sitzen lassen. Dennoch war dies nicht das Ende der Beziehung. Nicht einmal eine Scheidung oder der Hass, der darauf folgte, konnte der Anziehungskraft zwischen beiden etwas anhaben. Am 17. Dezember 1951 wurden sie offiziell geschieden, doch schon wenig später waren sie wieder zusammen und trennten sich ebenso rasch ein weiteres Mal. In der offiziellen Scheidungsverhandlung wurde Al das Sorgerecht für Jimi, Leon und Joe zugesprochen. Dieses Sorgerecht war jedoch eine reine Formalität auf dem Papier: Die Hendrix-Jungen wurden danach von ihrer Großmutter Clarice Jeter, Grandma Nora Hendrix in Vancouver, Tante Delores Hall und der Freundin Dorothy Harding sowie anderen aus der Nachbarschaft großgezogen, wie dies überwiegend schon der Fall war, als ihre Eltern noch verheiratet waren.

      Im Sommer 1952 brachten Lucille und Al eines der traurigsten Ereignisse in der Familiengeschichte hinter sich. Da sich Al weigerte, Joes Operation mitzufinanzieren, bedeutete dies in der Konsequenz, dass auch Joe unter Amtsvormundschaft gestellt werden musste, damit ihm die nötige medizinische Versorgung garantiert war. Dazu mussten Lucille und Al auf alle elterlichen Rechte an dem dreijährigen Joe verzichten. Lucille hatte Al angefleht, es sich noch einmal anders zu überlegen, und sowohl Delores wie auch Dorothy Harding hatten angeboten, Joe zu adoptieren. Al lehnte diese Vorschläge jedoch ab, vielleicht, weil er befürchtete, sich finanziell zu verpflichten.

      Al hatte aus diesem herzzerreißenden Anlass ein Auto geliehen. Jimi und Leon wussten, dass etwas im Busch war, als sie beobachteten, wie ihr Vater die Habseligkeiten ihres kleinen Bruders ins Auto packte und ihn zum Wagen brachte. Delores war gerufen worden, damit sie auf Jimi und Leon aufpasste, und sie und die beiden Kinder winkten Joe zum Abschied hinterher. Leon erinnert sich, sehr verwirrt gewesen zu sein. Mit beinahe zehn Jahren muss Jimi eine tiefe Trauer gespürt haben.

      Joe konnte sich allerdings sehr gut an den Tag erinnern. Seine Mutter hielt ihn auf der Autofahrt im Arm. „Sie roch so gut“, erinnert sich Joe, „nach Blumen.“

      Vor dem Krankenhaus angekommen, trug Lucille Joe aus dem Wagen und übergab ihn einer wartenden Schwester. Er saß mit der Schwester am Straßenrand, und als seine Mutter wieder ins Auto stieg, begann er zu weinen. „Mein Dad“, erinnert sich Joe, „ist nicht mal ausgestiegen. Er hat die ganze Zeit den Motor laufen lassen.“ Joe kletterte auf den Schoß der Schwester und blieb dort sitzen, während seine Eltern wegfuhren. In den folgenden Jahren stieß er immer mal wieder zufällig im Central District auf seine Brüder Jimi und Leon. Sie begegneten ihm stets mit großer Zuneigung und erinnerten sich an die drei Jahre, in denen sie als Familie zusammengelebt hatten. Joe traf gelegentlich sogar Al Hendrix im Viertel, aber Lucille sollte Joe Hendrix nie wiedersehen. Das letzte Bild seiner Mutter, das sich ihm ins Gedächtnis grub, war, wie sie im davonfahrenden Wagen zum Abschied die Hand hob.

      Kapitel vier

      Der Schwarze Ritter

      Seattle, Washington

      Juli 1952 bis März 1955

      Sir Gawain: „Welcher Ritter?“

      Prinz Eisenherz: „Der Schwarze Ritter. Wer ist das, Sire?“

      Sir Gawain: „Ein Geist.“

      — aus dem Film Prinz Eisenherz

      Am Thanksgiving Day 1952 wurde Jimi Hendrix zehn Jahre alt. Obwohl Al und Lucille offiziell geschieden waren, wohnten sie kurzzeitig wieder zusammen, und Lucille war im sechsten Monat schwanger. Auch bei diesem Kind sollte Al später die Vaterschaft leugnen. Das Baby, das am 14. Februar 1953 geboren wurde, erhielt den Namen Alfred Hendrix. Alfred war Als und ­Lucilles viertes Kind, das mit entwicklungsbedingten Behinderungen auf die Welt kam, und es wurde sofort nach der Geburt zur Adoption freigegeben.

      Als Alfred geboren wurde, lebte Lucille bei Al, zog jedoch nicht lange nach der Geburt wieder aus. „Wenn Mom zu Hause war, roch es morgens nach gebratenem Speck und Pfannkuchen“, erinnert sich Leon, „und wir sind rumgesprungen und haben geschrien: ‚Mama ist zu Hause!‘ Aber das dauerte nur einen Tag, denn dann fingen sie wieder an zu trinken und zu streiten, und Mama ging wieder.“ In dieser Zeit schlüpfte Lucille bei ihrer Mutter Clarice unter, die eine Wohnung über der Rainier-Brauerei hatte. Leon und Jimi besuchten sie dort heimlich und brachten schon bald die Gerüche der Brauerei mit ihrer Mutter in Verbindung. „Immer wenn ich Hopfen rieche, denke ich an meine Mama“, sagte Leon.

      Obwohl sie bitterarm waren, lernten die beiden Jungs wie zahllose andere Scheidungskinder auch, ihre Eltern zu manipulieren, damit ihnen Vorteile entstanden. „Dad bestrafte uns, indem er uns zu unserer Mutter schickte, also fingen wir absichtlich an, uns in Schwierigkeiten zu manövrieren“, sagte Leon. Al bestrafte die Kinder mit – wie er es nannte – „Auspeitschen“, was bedeutete, dass er sie mit einem Gürtel schlug. Wenn es ihm nicht gelang, sie damit gefügig zu machen, schickte er sie zu Lucille. „Dad hat unsere Taschen gepackt mit den Zahnbürsten und so“, erinnert sich Leon. „Manchmal, glaube ich, wollte er uns einfach eine Zeit lang los sein. Er hat uns bestraft, indem er sagte, wir müssten ein Wochenende bei unserer Mama verbringen, aber genau das wollten wir ja.“ Oft wurden die geplanten Exilaufenthalte jedoch noch im letzten Moment vereitelt, wenn sich Al und Lucille beispielsweise bei der Übergabe der Kinder in die Haare kriegten und Al mit den Jungs wieder nach Hause tobte. Die Jungs, die sich um den Besuch bei ihrer Mutter betrogen fühlten, schlichen sich dann heimlich zu ihr, was wiederum weiteres Auspeitschen nach sich zog, wenn Al es herausfand. Al schlug seine Söhne selten, wenn er nüchtern war. „Manchmal war er so voll“, sagt Leon, „dass er vergaß, wofür er uns auspeitschte.“ Als Jimi größer wurde, fing er an, sich gegen die Schläge zur Wehr zu setzen, indem er den Gürtel packte und festhielt, damit Al ihn nicht schlagen konnte. Diese Versuche waren in der Regel jedoch fruchtlos. „Mein Dad war stark“, sagt Leon. „Er hielt uns mit einer Hand fest und schlug uns mit der anderen.“

      Zu jener Zeit arbeitete Al im Schichtdienst für Seattle City Light. Da er die Kinder allein aufzog, hatte Al niemanden, der sie nach der Schule beaufsichtigte, und er erhielt regelmäßig während der Arbeitszeit Anrufe von besorgten Nachbarn, was seine Stellung gefährdete. Jimi sorgte für mehr Ärger als Leon, aber zumeist handelte es sich um Kleinigkeiten wie von unbeaufsichtigten Jugendlichen nicht anders zu erwarten. „Die Nachbarn passten auf uns auf“, meint Leon, „weil sie wussten, was sonst passiert wäre – das Sozialamt hätte uns abgeholt.“ Die Beamten des Sozialamts fuhren grüne Autos, und Leon und Jimi lernten, nach diesen Fahrzeugen Ausschau zu halten und sich schnell zu verziehen, sobald sie eins sahen. Sie achteten darauf, nicht die Schule zu schwänzen und damit die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen. „Das waren keine schlechten Kinder“, erinnert sich der Nachbar Melvin Harding. „Sie waren bloß ein bisschen wild und allein.“

      Al schrieb in seiner Autobiografie, er habe manchmal gehungert, damit die Jungen satt wurden, doch trotz seiner Opferbereitschaft bekamen sie selten etwas zu essen. Die Wohnung war schmutzig, da Al weder putzen noch waschen wollte, weil er dies für Frauenarbeit hielt. Kurzzeitig hatte Al eine neue Freundin, doch als immer klarer wurde, dass Al hauptsächlich an ihr als Haushälterin interessiert war, verließ sie ihn. Leon und Jimi besuchten zur Essenszeit