Aristoteles

Gesammelte Werke


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Wandel unterworfen sieht. Allein es ist damit doch nicht grade so, wie man sagt, sondern nur mit Unterschied. Bei den Göttern freilich mag sich gar keine Bewegung finden. Bei uns dagegen ist zwar auch ein Naturbereich, derselbe steht aber ganz unter dem Gesetze der Bewegung. Und doch bleibt der Unterschied dessen, was von Natur und dessen, was nicht von Natur ist, aufrecht. Welches Recht aber in den Dingen, die auch anders sein können, natürlich ist und welches es nicht ist, sondern auf Gesetz und Übereinkunft beruht, obschon beides gleichermaßen beweglich ist, ist von selbst einleuchtend. Diese Unterscheidung gilt ja auch sonst. Die rechte Hand ist z. B. von Natur stärker, und doch kann es Menschen geben, die beide Hände gleich gut gebrauchen. (1135a) Mit denjenigen Rechtsbestimmungen aber, die auf der Übereinkunft und dem Nutzen beruhen, verhält es sich ähnlich wie mit den Maßen. Die Maße für Öl und Getreide sind nicht überall gleich, sondern da, wo diese Erzeugnisse gekauft werden, sind sie (wegen des größeren Vorrats) größer, dagegen wo sie wieder verkauft werden, kleiner. Ebenso sind die nicht natürlichen, sondern vom menschlichen Willen getroffenen Rechtsbestimmungen nicht allerorts dieselben, grade so, wie es auch die Staatsverfassungen nicht sind, und doch ist eine allein von Natur die beste, finde sie sich, wo sie wolle.

      Jede einzelne Bestimmung des Rechtes und Gesetzes verhält sich wie das Allgemeine zum Besonderen. Der konkreten praktischen Fälle sind ja viele, jene Bestimmungen sind aber je eine einzelne, weil sie allgemein für alle einschlägigen Fälle gelten.

      Es ist ein Unterschied zwischen ungerechter Handlung und Unrecht, so wie zwischen gerechter Handlung und Recht. Unrecht ist etwas von Natur oder kraft Verordnung. Eben dieses ist, wenn es getan wird, eine ungerechte Handlung; bevor es getan wird, ist es das noch nicht, sondern Unrecht. Dasselbe gilt von der gerechten Handlung. Als gemeinsame Bezeichnung ist das Wort »Dikaiopragema« gebräuchlicher, während der Ausdruck »Dikaioma« speziell für die Berichtigung des Unrechts gebraucht wird.

      Welcherlei und wie viele Unter-Arten der beiden Rechte es im einzelnen gibt, und mit was für Gegenständen diese es zu tun haben, werden wir später (in der Politik) betrachten.

      Da es mit Recht und Unrecht so bestellt ist, so wird eine ungerechte oder eine gerechte Handlung nur dann begangen, wenn man freiwillig recht oder unrecht tut. Geschieht es unfreiwillig, so kommt nur zufällig oder mitfolgend eine ungerechte oder eine gerechte Handlung zustande, indem man nämlich tut was mitfolgend recht oder unrecht ist. Über die ungerechte und gerechte Handlung aber entscheidet das Moment der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Erst wenn ein Unrecht freiwillig ist, unterliegt es dem Tadel, und dann liegt zugleich eine ungerechte Handlung vor, so daß etwas so lange blos Unrecht und noch keine ungerechte Handlung ist, als nicht die Freiwilligkeit herzutritt.

      Als freiwillig gilt mir, wie schon früher erklärt worden, eine Handlung, die zu verrichten bei ihrem Urheber steht, und die man mit Wissen verrichtet, ohne bezüglich der Person, der sie gilt, und des Werkzeuges und des Beweggrundes, z. B. darüber, wen man schlägt, und womit und weshalb man ihn schlägt, in einem Irrtum befangen zu sein; auch muß man alles dieses an sich und nicht blos mitfolgend wissen und muß frei von Zwange sein. Wenn z. B. einer meine Hand nimmt und damit einen Dritten schlägt, so tue ich das nicht freiwillig, weil es nicht bei mir stand. Es kann auch geschehen, daß der Geschlagene der Vater des Schlägers ist und der letztere zwar weiß, daß der Geschlagene ein Mensch oder einer der Anwesenden ist, nicht aber, daß es sein Vater ist. Dieses gilt in gleicher Weise von dem Beweggrund und allen anderen Umständen einer Handlung. Demnach ist unfreiwillig was man unwissentlich tut oder zwar nicht unwissentlich, aber doch ohne anders zu können, oder was man aus Zwang tut. Denn auch manches, was die Natur mit sich bringt, tun und leiden wir wissentlich, was doch weder (1135b) freiwillig noch unfreiwillig ist, wie daß wir alt werden und sterben.

      Ebenso ist es mit der Zufälligkeit, wenn es sich um Recht und Unrecht handelt. Einer kann ein Pfand unfreiwillig und aus Furcht zurückgeben, und doch darf man darum nicht sagen, der Betreffende tue was recht ist oder verrichte eine gerechte Handlung, außer zufälliger oder mitfolgender Weise. Ebenso ist von einem, der ein Pfand nur gezwungen und unfreiwillig nicht ausfolgt, zu sagen, daß er nur mitfolgend eine ungerechte Handlung begeht und tut was unrecht ist.

      Das Freiwillige tun wir teils vorsätzlich, teils unvorsätzlich: vorsätzlich was wir vorher überlegt haben, unvorsätzlich was wir nicht vorher überlegt haben. Von den drei Arten von Schädigungen nun, die im Verkehre vorkommen, liegen die unwissentlichen Verfehlungen dann vor, wenn die Person, der man etwas tut, und ebenso der Inhalt, das Werkzeug und der Erfolg der betreffenden Handlung andere sind, als der Handelnde meinte. Er mag nämlich gedacht haben, er werfe oder stoße überhaupt nicht, oder nicht mit dem betreffenden Instrument, oder den nicht, oder nicht mit dem Ausgang. Nun aber geschieht es mit einem Erfolg, an den er nicht gedacht hat, daß er z. B. eine Wunde schlägt, wo er nur die Haut ritzen wollte, oder es geschieht an jemanden, den er nicht gemeint hat, oder in einer Art und in einem Grade, die nicht in seiner Absicht lagen. Ist die Schädigung ohne irgend welche Absicht herbeigeführt worden, so liegt ein Unglück vor; ist sie aber nicht ganz unabsichtlich, aber doch nicht aus böser Absicht geschehen, so ist es eine Verfehlung. Denn eine Verfehlung liegt vor, wenn die erste Ursache des Vorgangs im Handelnden selbst liegt, ein Unglück dagegen, wo sie außer ihm liegt.

      Hat man zwar wissentlich gehandelt, aber ohne vorherige Überlegung, so ist es eine ungerechte Handlung, z. B. alles, was dem Menschen im Zorn oder in anderen notwendigen oder natürlichen Affekten zu tun begegnen kann. Denn wenn man in dieser Weise einen schädigt und sich verfehlt, so tut man zwar unrecht und liegt eine ungerechte Handlung vor, aber man ist doch deswegen noch kein Ungerechter und kein Bösewicht, da die Schädigung nicht aus Bosheit geschehen ist.

      Handelt man aber mit Vorsatz, so ist man ein ungerechter und böser Mensch.

      Daher heißt es treffend: »Im Zorn getan, gilt nicht als vorbedacht getan.« Denn der Anfang der Handlung liegt nicht in dem, der im Zorn handelt, sondern in dem, der ihn zornig gemacht hat. Ferner streitet man auch in solchen Fällen nicht darüber, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht, sondern darüber, ob es recht war. Denn der Zorn wird durch eine vermeintliche Ungerechtigkeit hervorgerufen. Man streitet ja hier nicht über die Tatsache wie bei Verträgen, wo der eine der Kontrahenten ein schlechter Mensch sein muß, wenn er nicht etwa seine entgegengesetzte Behauptung aus Vergeßlichkeit aufstellt, sondern über die Tatsache herrscht Einverständnis, und der Streit bewegt sich nur darum, ob etwas recht gehandelt war oder nicht. Der Betrüger aber weiß den Sachverhalt recht wohl, und so meint der eine wirklich Unrecht zu leiden, der andere nicht.

      (1136a) Wenn man einen aber vorsätzlich schädigt, so begeht man eine Ungerechtigkeit. Und erst wer in diesem Sinne Unrecht begeht, ist ungerecht, wenn was er tut, gegen die Proportionalität oder die Gleichheit anläuft. Ebenso ist man gerecht, wenn man vorsätzlich gerecht handelt. Gerecht handelt man aber, wenn man nur freiwillig handelt. Die unfreiwilligen Handlungen aber sind teils solche, die Nachsicht verdienen, teils solche, die Nachsicht nicht verdienen. Nachsicht verdienen fehlerhafte Handlungen, wenn sie nicht blos in Unwissenheit, sondern auch aus Unwissenheit geschehen. Keine Nachsicht dagegen verdienen jene fehlerhaften Handlungen, die nicht aus Unwissenheit geschehen, sondern zwar in Unwissenheit, aber einer solchen, die durch eine weder natürliche noch menschliche Leidenschaft verschuldet ist.

      Elftes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      »Getödtet hab' ich meine Mutter, kurz gesagt,

       Sie wollt', ich wollte – nein, sie wollt', ich wollte nicht«;

      ob es nämlich in Wahrheit möglich ist, mit Willen Unrecht zu leiden, oder ob nicht vielmehr alles Unrechtleiden unfreiwillig ist, wie alles Unrechttun freiwillig. Und ist etwa alles (Unrechtleiden) dies, oder (alles) jenes, wie alles Unrechttun freiwillig,