Stefan Zweig

Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen


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ist; und so gibt er ein furchtbares Versprechen, das er zu seiner Ehre und Unehre auf das vollkommenste erfüllt hat. Dieses Versprechen rufen bei Trommeln und Fanfaren seine Herolde in alle Winde: »Mahomet schwört beim Namen Allahs, beim Namen Mohammeds und der viertausend Propheten, er schwört bei der Seele seines Vaters, des Sultans Murad, bei den Häuptern seiner Kinder und bei seinem Säbel, dass seinen Truppen nach der Erstürmung der Stadt unbeschränktes Recht auf drei Tage Plünderung gegeben wird. Alles, was in diesen Mauern ist: Hausrat und Habe, Schmuck und Juwelen, Münzen und Schätze, die Männer, die Frauen, die Kinder sollen den siegreichen Soldaten gehören, und er selbst verzichtet auf jeglichen Teil, außer auf die Ehre, dieses letzte Bollwerk des oströmischen Reiches erobert zu haben.«

      Mit rasendem Jubel nehmen die Soldaten diese wilde Verkündigung auf. Wie ein Sturm schwillt das laute Getöse des Jubels und der rasende Allah il Allah-Schrei der Tausende hinüber zur verängstigten Stadt. »Jagma, Jagma«, »Plünderung«, »Plünderung«! Das Wort wird zum Feldruf, es knattert mit den Trommeln, es braust mit Zimbeln und Fanfaren, und nachts verwandelt sich das Lager in ein festliches Lichtmeer. Erschauernd sehen die Belagerten von ihren Wällen, wie Myriaden von Lichtern und Fackeln in der Ebene und auf den Hügeln entbrennen und Feinde mit Trompeten, Pfeifen, Trommeln und Tamburinen den Sieg noch vor dem Siege feiern: Es ist wie die grausam geräuschvolle Zeremonie heidnischer Priester vor der Opferung. Dann plötzlich aber um Mitternacht erlöschen auf Mahomets Befehl mit einem Schlage alle Lichter, brüsk endet dieses tausendstimmige, heiße Getön. Doch dieses plötzliche Verstummen und dieses lastende Dunkel bedrückt mit seiner drohenden Entschlossenheit die verstört Lauschenden noch furchtbarer als der frenetische Jubel des lärmenden Lichts.

      Die letzte Messe in Hagia Sophia

      Die Belagerten benötigen keine Kundschafter, keine Überläufer, um zu wissen, was ihnen bevorsteht. Sie wissen, der Sturm ist befohlen, und Ahnung ungeheurer Verpflichtung und ungeheurer Gefahr lastet wie ein gewittriges Gewölk über der ganzen Stadt. Sonst zerteilt in Spaltungen und religiösen Streit, sammelt sich die Bevölkerung in diesen letzten Stunden – immer erschafft erst die äußerste Not die unvergleichlichen Schauspiele irdischer Einigung. Damit allen gewärtig sei, was ihnen zu verteidigen obliege: der Glaube, die große Vergangenheit, die gemeinsame Kultur, ordnet der Basileus eine ergreifende Zeremonie an. Auf seinen Befehl sammelt sich das ganze Volk, Orthodoxe und Katholiken, Priester und Laien, Kinder und Greise, zu einer einzigen Prozession. Niemand darf, niemand will zu Hause bleiben, vom Reichsten bis zum Ärmsten reihen sich fromm und singend alle zum »Kyrie Eleison« in den feierlichen Zug, der erst die Innenstadt und dann auch die äußern Wälle durchschreitet. Aus den Kirchen werden die heiligen Ikonen und Reliquien geholt und vorangetragen; überall, wo eine Bresche in die Mauer geschlagen ist, hängt man dann eines der Heiligenbilder hin, damit es besser als irdische Waffen den Ansturm der Ungläubigen abwehren solle. Gleichzeitig versammelt Kaiser Konstantin um sich die Senatoren, die Edelleute und Kommandanten, um mit einer letzten Ansprache ihren Mut zu befeuern. Nicht kann er zwar wie Mahomet ihnen unermessliche Beute versprechen. Aber die Ehre schildert er ihnen, die sie für die Christenheit und die ganze abendländische Welt erwerben, wenn sie diesen letzten entscheidenden Ansturm abwehren, und die Gefahr, wenn sie den Mordbrennern erliegen: Mahomet und Konstantin, beide wissen sie: Dieser Tag entscheidet auf Jahrhunderte Geschichte.

      Dann beginnt die letzte Szene, eine der ergreifendsten Europas, eine unvergessliche Ekstase des Unterganges. In Hagia Sophia, der damals noch herrlichsten Kathedrale der Welt, die seit jenem Tage der Verbrüderung der beiden Kirchen von den einen Gläubigen und von den anderen verlassen gewesen war, versammeln sich die Todgeweihten. Um den Kaiser schart sich der ganze Hof, die Adeligen, die griechische und die römische Priesterschaft, die genuesischen und venezianischen Soldaten und Matrosen, alle in Rüstung und Waffen: Und hinter ihnen knien stumm und ehrfürchtig Tausende und aber Tausende murmelnde Schatten – das gebeugte, das von Angst und Sorgen aufgewühlte Volk; und die Kerzen, die mühsam mit dem Dunkel der niederhängenden Wölbungen ringen, erleuchten diese einmütig hingebeugte Masse im Gebet wie einen einzigen Leib. Es ist die Seele von Byzanz, die hier zu Gott betet. Der Patriarch erhebt nun mächtig und aufrufend seine Stimme, singend antworten ihm die Chöre, noch einmal ertönt die heilige, die ewige Stimme des Abendlandes, die Musik, in diesem Raume. Dann tritt einer nach dem anderen, der Kaiser zuerst, vor den Altar, um die Tröstung des Glaubens zu empfangen, bis hoch zu den Wölbungen hinauf hallt und schrillt der riesige Raum von der unaufhörlichen Brandung des Gebetes. Die letzte, die Totenmesse des oströmischen Reiches hat begonnen. Denn zum letzten Mal hat der christliche Glaube gelebt in der Kathedrale Justinians.

      Nach dieser erschütternden Zeremonie kehrt der Kaiser nur noch einmal flüchtig in seinen Palast zurück, um alle seine Untergebenen und Diener um Vergebung für alles Unrecht zu bitten, das er jemals im Leben gegen sie begangen habe. Dann schwingt er sich auf das Pferd und reitet – genau wie Mahomet, sein großer Gegner, in der gleichen Stunde – von einem Ende bis zum anderen die Wälle entlang, die Soldaten anzufeuern. Schon ist die Nacht tief herabgesunken. Keine Stimme erhebt sich mehr, keine Waffe klirrt. Aber mit erregter Seele warten die Tausende innerhalb der Mauern auf den Tag und den Tod.

      Kerkaporta, die vergessene Tür

      Um ein Uhr morgens gibt der Sultan das Signal zum Angriff. Riesig wird die Standarte entrollt, und mit einem einzigen Schrei »Allah, Allah il Allah« stürzen sich hunderttausend Menschen mit Waffen und Leitern und Stricken und Enterhaken gegen die Mauern, während gleichzeitig alle Trommeln rasseln, alle Fanfaren tosen, Pauken, Zimbeln und Flöten ihr scharfes Getöne mit menschlichen Schreien und dem Donnern der Kanonen zu einem einzigen Orkan vereinigen. Mitleidlos werden zunächst die ungeübten Truppen, die Baschibozugs, gegen die Mauern geworfen – ihre halbnackten Leiber dienen im Angriffsplan des Sultans gewissermaßen nur als Prellböcke, bestimmt, den Feind zu ermüden und zu schwächen, bevor die Kerntruppe zum entscheidenden Sturm eingesetzt wird. Mit hundert Leitern rennen im Dunkel die Vorgepeitschten heran, sie klettern die Zinnen empor, werden herabgeworfen, stürmen wieder hinan, immer, immer wieder, denn sie haben keinen Rückweg: Hinter ihnen, dem bloß zur Opferung bestimmten wertlosen Menschenmaterial, stehen schon die Kerntruppen, die sie immer wieder vortreiben in den fast sicheren Tod. Noch behalten die Verteidiger die Oberhand, ihren Maschenpanzern können die zahllosen Pfeile und Steine nichts anhaben. Aber ihre wirkliche Gefahr – und dies hat Mahomet richtig errechnet – ist die Ermüdung. In schweren Rüstungen fortwährend gegen die immer wieder vorpreschenden Leichttruppen kämpfend, ständig von einer Angriffsstelle zu der anderen springend, erschöpfen sie ein Gutteil ihrer Kraft in dieser aufgezwungenen Abwehr. Und als jetzt – schon beginnt nach zweistündigem Ringen der Morgen zu grauen – die zweite Sturmtruppe, die Anatolier, vorstürmen, wird der Kampf schon gefährlicher. Denn diese Anatolier sind disziplinierte Krieger, wohlgeschult und gleichfalls mit Maschenpanzern gegürtet, sie sind außerdem in der Überzahl und völlig ausgeruht, während die Verteidiger bald die eine, bald die andere Stelle gegen die Einbrüche schützen müssen. Aber noch immer werden überall die Angreifer zurückgeworfen, und der Sultan muss seine letzten Reserven einsetzen, die Janitscharen, die Kerntruppe, die Elitegarde des ottomanischen Heers. In eigner Person stellt er sich an die Spitze der zwölftausend jungen, ausgewählten Soldaten, der besten, die Europa damals kennt, und mit einem einzigen Schrei werfen sie sich auf die erschöpften Gegner. Es ist höchste Zeit, dass jetzt in der Stadt alle Glocken läuten, um die letzten halbwegs Kampffähigen an die Wälle zu rufen, dass man die Matrosen heranholt von den Schiffen, denn nun kommt der wahre Entscheidungskampf in Gang. Zum Verhängnis für die Verteidiger trifft ein Steinschlag den Führer der Genueser Truppe, den verwegenen Condottiere Giustiniani, der schwer verwundet zu den Schiffen abgeschleppt wird, und sein Fall bringt die Energie der Verteidiger für einen Augenblick ins Wanken. Aber schon jagt der Kaiser selbst heran, um den drohenden Einbruch zu verhindern, noch einmal gelingt es, die Sturmleitern hinabzustoßen: Entschlossenheit steht gegen letzte Entschlossenheit, und für einen Atemzug noch scheint Byzanz gerettet, die höchste Not hat wider den wildesten Angriff gesiegt. Da entscheidet ein tragischer Zwischenfall, eine jener geheimnisvollen Sekunden, wie sie manchmal die Geschichte in ihren unerforschlichen Ratschlüssen hervorbringt, mit einem Schlage das Schicksal von Byzanz.

      Etwas ganz Unwahrscheinliches hat sich begeben. Durch eine der vielen Breschen der Außenmauern