Virginia Woolf

Ein Zimmer für sich allein


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sagte Thackeray und drückte einen Brief von Lamb an seine Stirn.6 In der Tat ist Lamb unter all den Verstorbenen (ich teile Ihnen meine Gedanken so mit, wie sie mir kamen) einer der einnehmendsten, einer, den man gern gefragt hätte: Erzählen Sie mal, wie haben Sie eigentlich Ihre Essays geschrieben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm7 mit all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, wegen des wilden Aufloderns der Phantasie, des jähen Aufblitzens von Genie, was sie fehlerhaft und unvollkommen macht, aber vor Poesie funkeln lässt. Lamb kam also vor etwa hundert Jahren nach Oxbridge. Natürlich hat er einen Essay geschrieben – der Titel ist mir entfallen – über die Handschrift eines Gedichts von Milton, die er hier sah. Vielleicht war es Lycidas,8 und Lamb schrieb, wie sehr es ihn erschüttert habe, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, irgendein Wort in Lycidas könne anders sein, als es war. Der Gedanke, Milton könne in diesem Gedicht Worte geändert haben, erschien ihm wie ein Sakrileg. Das brachte mich darauf, mir – so weit ich konnte – die Verse von Lycidas aufzusagen und mich mit dem Ratespiel zu vergnügen, welches Wort Milton wohl geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass ebenjene Handschrift, die Lamb betrachtet hat, nur wenige hundert Meter entfernt lag, so dass man auf Lambs Spuren über den Innenhof zu der berühmten Bibliothek, die diesen Schatz bewahrt, wandeln konnte. Obendrein, entsann ich mich, als ich den Plan in die Tat umsetzte, liegt in dieser berühmten Bibliothek auch die Handschrift von Thackerays Esmond.9 Kritiker behaupten oft, Esmond sei Thackerays bester Roman. Doch der affektierte Stil, mit seiner Nachahmung des 18. Jahrhunderts, wirkt störend, soweit ich mich erinnere, wobei es jedoch sein könnte, dass der Stil des 18. Jahrhunderts für Thackeray natürlich war – ein Umstand, der sich überprüfen ließe, indem man die Handschrift nimmt und nachsieht, ob die Änderungen der Verbesserung des Stils oder des Verständnisses galten. Aber dann müsste man entscheiden, was Stil ist und was dem Verständnis dient, eine Frage, die – aber da stand ich schon vor der Tür, die direkt in die Bibliothek führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien dort, wie ein Schutzengel, der mit dem Geflatter einer schwarzen Robe statt weißer Flügel den Weg versperrt, abwehrend ein silberhaariger, gütiger Gentleman, der, während er mich zurückscheuchte, mit leiser Stimme bedauerte, Damen seien nur in Begleitung eines Fellows des College oder mit einem Empfehlungsschreiben versehen zur Bibliothek zugelassen.

      Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verwünscht wird, ist für eine berühmte Bibliothek völlig bedeutungslos. Ehrwürdig und gelassen, mit all ihren Schätzen sicher an ihrem Busen verwahrt, schläft sie selbstzufrieden und wird, was mich angeht, für immer so weiterschlafen. Niemals wieder werde ich jene Echos erwecken, niemals wieder werde ich um jene Gastfreundschaft bitten, so schwor ich, als ich voller Zorn die Treppe hinabstieg. Bis zum Mittagessen blieb noch eine Stunde Zeit, was konnte man anfangen? Über die Wiesen spazieren? Am Fluss sitzen? Gewiss, es war ein wunderbarer Oktobermorgen, die Blätter trudelten rot zu Boden, beides würde keine große Mühe bereiten. Doch drang Musik an mein Ohr. Irgendeine Andacht oder Feierlichkeit war im Gange. Die Orgel klagte mit Macht, als ich am Kirchenportal vorbeikam. Sogar das Leid der Christenheit klang in dieser gelassenen Atmosphäre mehr wie die Erinnerung an Leid als wie das Leid selbst, sogar das Stöhnen der alten Orgel schien in Frieden gehüllt. Ich verspürte nicht den Wunsch einzutreten, selbst wenn ich das Recht dazu gehabt hätte, denn dieses Mal würde mich vielleicht der Küster anhalten und meinen Taufschein oder ein Empfehlungsschreiben des Dekans verlangen. Doch das Äußere dieser prachtvollen Gebäude ist oft ebenso schön wie das Innere. Obendrein war es vergnüglich genug, zuzuschauen, wie sich die Gemeinde versammelte, etliche hinein- und wieder hinausgingen und am Eingang zur Kirche10 umherschwärmten, wie Bienen am Schlupfloch ihres Stocks. Viele trugen Barett und Talar, manche hatten Quasten aus Pelz an den Schultern, andere wurden in Rollstühlen geschoben, und wieder andere schienen, obgleich noch nicht über die Lebensmitte hinaus, zu so eigenartigen Gestalten gestaucht und gefaltet, dass sie einen an diese riesigen Krebse und Langusten erinnerten, die sich mühselig über den Sand eines Aquariums schleppen. Wie ich so an der Mauer lehnte, erschien die Universität tatsächlich wie ein Refugium, in dem seltene Arten erhalten wurden, die bald ausgestorben wären, müssten sie auf dem Pflaster der Strand11 um ihr Dasein kämpfen. Mir kamen alte Geschichten von alten Dekanen und alten Professoren in den Sinn, aber bevor ich den Mut gefasst hatte, zu pfeifen – es hieß immer, dass ein alter Professor beim Ertönen eines Pfiffes … augenblicklich in Galopp verfiel –, war die ehrwürdige Gemeinde hineingegangen. Das Äußere der Kirche blieb zurück. Wie Sie wissen, kann man ihre hohen Kuppeln und Spitzen, die bei Nacht erleuchtet und meilenweit sichtbar sind, noch weit über die Hügel hinweg erkennen, wie ein Segelschiff, das sich ewig auf Fahrt befindet und nie ankommt. Einst war dieser Innenhof mit seinen ebenen Rasenflächen, den mächtigen Gebäuden und der Kirche vermutlich ebenfalls Marschland gewesen, wo die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Gespanne von Pferden und Ochsen, so überlegte ich, müssen die Steine in Fuhrwerken aus fernen Gegenden herbeigekarrt haben, und dann wurden die grauen Blöcke, in deren Schatten ich jetzt stand, mit unendlicher Mühsal Reihe für Reihe einer auf den anderen gesetzt, und dann brachten die Maler ihr Glas für die Fenster, und die Steinmetze waren über Jahrhunderte mit Kitt und Mörtel, Spaten und Kelle auf diesem Dach beschäftigt. Jeden Samstag muss jemand Gold und Silber aus einem ledernen Geldbeutel in ihre alten Fäuste geschüttet haben, denn am Abend vergnügten sie sich vermutlich bei Bier und Kegelspiel. Ein nicht enden wollender Strom von Gold und Silber, überlegte ich, muss sich unablässig in diesen Innenhof ergossen haben, damit weiterhin Steine kamen und Steinmetze arbeiteten, damit geebnet, ausgehoben, geschaufelt und entwässert wurde. Doch damals herrschte das Zeitalter des Glaubens, und es floss reichlich Geld, um diese Steine auf ein festes Fundament zu stellen, und als sich die Mauern erhoben, floss noch mehr Geld aus den Schatullen von Königen und Königinnen und hohen Adligen, um dafür Sorge zu tragen, dass hier geistliche Lieder gesungen und Gelehrte unterrichtet wurden. Ländereien wurden gestiftet und der Zehnte gegeben. Und als das Zeitalter des Glaubens vorbei und das Zeitalter der Vernunft angebrochen war, floss derselbe Strom von Gold und Silber wie zuvor, gelehrte Vereinigungen wurden gegründet und Lehrstühle eingerichtet, nur floss das Gold und Silber jetzt nicht mehr aus der Schatulle des Königs, sondern aus den Truhen der Kaufleute und Fabrikanten, aus den Geldbörsen von Männern, die, sagen wir, als Unternehmer ein Vermögen gemacht hatten und in ihren Testamenten einen beträchtlichen Teil davon zurückgaben, um die Universitäten, an denen sie ihr Handwerk gelernt hatten, mit noch mehr Lehrstühlen, Stipendien und Stiftungen auszustatten. Daher die Bibliotheken und Labore, die Observatorien, die vorzügliche Ausrüstung mit teuren und raffinierten Instrumenten, die jetzt auf gläsernen Borden stehen, wo vor Jahrhunderten noch die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Ja, als ich so um den Innenhof spazierte, schien das Fundament aus Gold und Silber wahrlich solide, das Pflaster lag fest gefügt über dem wilden Gras. Männer mit Tabletts auf den Köpfen eilten geschäftig von Treppenhaus zu Treppenhaus. Bunte Blumen blühten in den Blumenkästen der Fenster. Grammophonklänge schallten von drinnen heraus. Es war unmöglich, nicht daran zu denken – was immer es war, der Gedanke wurde jäh unterbrochen. Die Uhr schlug. Es war Zeit, sich auf den Weg zum Mittagessen zu machen.12

      Es ist ein seltsamer Umstand, dass Schriftsteller die Angewohnheit haben, uns glauben zu machen, Mittagsgesellschaften seien ohne Ausnahme denkwürdig, weil etwas Geistreiches gesagt oder etwas Kluges getan wurde. Aber nur selten haben sie ein Wort dafür übrig, was gegessen wurde. Es ist Teil der schriftstellerischen Konventionen, weder Suppe noch Lachs noch Jungente zu erwähnen, als seien Suppe und Lachs und Jungente gänzlich unbedeutend, als habe nie jemand eine Zigarre geraucht oder ein Glas Wein getrunken. An dieser Stelle werde ich mir jedoch die Freiheit nehmen, mich über diese Konvention hinwegzusetzen und Ihnen zu berichten, dass die Mahlzeit bei diesem Anlass mit Seezungen begann, die in einer tiefen Schüssel lagen und über die der Koch des College eine Decke aus weißestem Rahm gebreitet hatte, nur hier und da wie die Flanke eines Rehkitzes von braunen Flecken gesprenkelt. Danach folgten die Rebhühner, doch wer dabei an ein paar kahle, braune Vögel auf einem Teller denkt, der irrt. Die Rebhühner, zahlreiche und verschiedene, kamen mit ihrem gesamten Gefolge von Soßen und Salaten, die scharfen und die süßen, alles schön der Reihe nach, mit ihren Kartoffeln, dünn wie Münzen, aber nicht so hart, und ihrem Rosenkohl, mit Blättern wie Rosenknospen, aber saftiger. Und kaum waren der Braten und sein Gefolge bewältigt, da setzte uns der stumme Diener, vielleicht der Pedell persönlich in einer milderen Erscheinungsform, eine von Servietten