Bernd Hettlage

Das Geheimnis von Karlsruhe


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badische Thronfolger. Es war nämlich gar nicht der Sohn Karls, sondern das Kind Napoleons und seiner Adoptivtochter Stéphanie.“

      Der Regisseur neigte den Kopf.

      „Aha. Interessant. Erzählen Sie uns, wie sie auf diese verwegene These kommen.“

      Arnold reckte den Hals, um nichts von der Szene zu verpassen.

      „Was heißt hier These?“ Der Mann schüttelte vehement den Kopf. „Das ist die Wahrheit. Stéphanie war ihrem Adoptivvater hörig, sie liebte ihn. Die beiden trafen sich immer im Gasthaus Laub in Berghausen, zehn Kilometer vor den Toren der Stadt. Dort zeugten sie auch Kaspar. Stéphanies Mann Karl war kalt wie ein Fisch. Dem lag nichts an Stéphanie. Die beiden haben sich nie vereinigt.“

      „Haben Sie denn Beweise dafür?“

      „Beweise, Beweise!“ Der Mann fuchtelte mit seinen Händen vor Birkenmeyer herum. Der blieb ganz ruhig.

      „Gehen Sie doch mal nach Berghausen und fragen sie die Wirtsleute. Oder, wenn die nicht die Wahrheit verraten wollen, sprechen Sie mit ein paar alten Leuten im Dorf. Jeder dort weiß das.“

      „Sie sind nicht zufällig auch aus Berghausen?“ Birkenmeyer lächelte süffisant.

      „Ach!“ Der Mann winkte ab und entfernte sich wortlos. Arnold sah ihm nach, wie er unter den Arkaden in der Kaiserstraße verschwand.

      Birkenmeyer klatschte wieder in die Hände. „So, jetzt sind wir ja alle schlauer. Weiter geht’s, meine Damen und Herren. Folgen Sie mir zur Pyramide.“

      Und wie, dachte Arnold, war das nun mit der Verbindung zwischen Kaspar Hauser, dem Gral und Karlsruhe? Das schien Birkenmeyer nach dieser Unterbrechung ganz vergessen zu haben.

      An der Kaiserstraße mussten sie kurz anhalten, um eine Straßenbahn passieren zu lassen. Dann ging es weiter zur Pyramide. Karlsruhes Haupteinkaufsstraße und der Marktplatz wirkten wie ausgestorben.

      Vor dem Wahrzeichen Karlsruhes, unter dem der Stadtgründer begraben lag, hielt Birkenmeyer erneut an und wandte sich an sein Publikum: „Hier stehen wir vor dem größten Rätsel Karlsruhes: Warum wählt sich eine Stadt eine Pyramide als Denkmal an einer solch zentralen Stelle? Auch das gibt es in Europa nirgendwo. Warum liegt der Stadtgründer ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Welchen Sinn hat das?“

      Auf einmal löste sich eine Frau mit roter Mähne und wallendem Umhang aus der Menge. Einer Megäre gleich stürzte sie auf Birkenmeyer los und drohte ihm zornentbrannt: „Rede nur weiter, Schamloser, Du! Erst Cagliostro, dann Kaspar Hauser und jetzt entweihst du auch noch das Grabmal. Aber wir kriegen euch alle!“

      Birkenmeyer wich etwas zur Seite und hob abwehrend die Hände.

      „Gute Frau ...“

      „Wer die Toten stört, wird von ihnen besucht werden!“

      Nach diesen Worten wandte sie sich an die Menge. Sie mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter.

      „Geht nach Hause“, forderte sie die Umstehenden auf, „Ihr habt genug gehört. Böse Dinge gehen hier in Karlsruhe vor, von deren Kräften ihr keine Ahnung habt. Geht nach Hause!“

      Sie wedelte mit den Händen, als wollte sie Vögel verscheuchen, und verschwand dann ebenso rasch wie der Alte zuvor in Richtung des neu errichteten Volksbankgebäudes.

      Einige im Publikum lachten nervös auf. Arnold, dem bei jedem Hollywood-Rührfilm gegen seinen Willen die Tränen kamen, spürte einen leichten Schauer auf dem Rücken.

      Birkenmeyer dagegen fuhr scheinbar unbeeindruckt fort: „Nun gut. Sie haben es gehört. Wer gehen mag, soll gehen. Ich für meinen Teil möchte jetzt fortfahren. Die Aufklärung, meine Damen und Herren,“ der Regisseur straffte sich, „hat sich von ihren Gegnern noch nie aufhalten lassen. Und außerdem ...“, er grinste in die Runde, „wenn sie die Baustellen meint, hat sie ja recht.“

      Erleichtert lachten die meisten Zuhörer auf. Niemand ging.

      „Also“, fuhr er fort, „warum liegt der Stadtgründer Karl Wilhelm ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Ich kann es Ihnen erklären. Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Die badischen Markgrafen ließen sich nämlich über Jahrhunderte hinweg ohne ihre Organe begraben. Kommt Ihnen das bekannt vor?“

      Er sah theatralisch in die Runde und schwenkte seine Taschenlampe dazu. Arnold kam auf einmal der Verdacht, dass auch die Frau zu diesem Abend gehörte. Dass sie womöglich eine Schauspielerin war. Der alte Mann, der behauptete, dass Kaspar Hauser ein Sohn Napoleons war, vielleicht auch. Das würde natürlich einiges erklären. Sicher, sie waren hier schließlich auf einem Theaterabend.

      Arnold entspannte sich. Die Frau mit dem roten Schal stand kaum fünf Meter von ihm entfernt und tauschte einen leicht spöttischen Blick mit ihm, als dächte sie in diesem Moment dasselbe. Dann sah sie wieder nach vorne, ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Regisseur gerichtet. Sie hatte hohe Wangenknochen und ein Gesicht mit weichen Formen. Sie strich sich das Haar aus der Stirn, ohne ihn weiter zu beachten, und setzte eine strenge Miene auf.

      „Richtig“, sagte Birkenmeyer, „die alten Ägypter ließen sich so begraben. Um zur Mumie zu werden, mussten ihnen die Organe, die ja im Körper verfaulen konnten, entfernt werden. Und ihre Herrscher, die Pharaonen, wurden wo bestattet? In Pyramiden. Ein ägyptischer Bestattungsritus bei den Markgrafen? Oh ja, und es geht noch weiter.“ Birkenmeyer hob jetzt die Hände wie ein Prediger, Fink ließ die Taschenlampe kreisen. Das Ganze wirkte tatsächlich ein wenig unheimlich. Nicht schlecht gemacht, dachte Arnold amüsiert.

      „Die Pharaonen ließen sich zwar ohne Organe begraben, doch zu den Grabbeigaben gehörte auch ihr Herz. Das wurde ihnen auf den Sarkophag gelegt oder mit hinein in den Sarkophag, denn für jeden Ägypter gab es ja noch das Totengericht. Bevor sie ins Totenreich kamen, musste sich jeder, auch die Pharaonen, vor Osiris rechtfertigen, dem Herrscher des Totenreiches. Das Totengericht befand sich in der Halle der Wahrheit.“

      Birkenmeyer hielt inne, weil eine Straßenbahn kreischend um die Kurve in Richtung Hauptbahnhof bog. Die Menge ließ sich nicht stören. Alles hing an den Lippen des dicken, schwitzenden Regisseurs, der sich wieder einmal über den Kopf strich und dabei beiläufig seine Haare in die rechte Form zu bringen versuchte.

      Die Straßenbahn hielt hinter ihnen, ein paar Menschen kamen heraus und blieben stehen, um zu schauen, was vor der Pyramide im Gange war. Der Regisseur und sein Assistent waren inzwischen über die niedrige Kette gestiegen, die rings um die Pyramide verlief, um deren leicht ansteigenden Sockel als Bühne zu benutzen.

      „In der Mitte der Halle der Wahrheit“, hob Birkenmeyer an, als die Straßenbahn endlich weitergefahren war, „stand die Seelenwaage. Auf der wurde das Herz des Toten gewogen. Wenn der Verstorbene sich durch genau vorgeschriebene Formeln aus dem Totenbuch von seinen Sünden freisprach, zeigte die Waage an, ob er die Wahrheit sagte. Neigte sich die Schale mit dem Herzen aber, so log er und es wurden ihm schreckliche Strafen auferlegt, Feuer und Folter, er wurde von einem Ungeheuer verschlungen und der Weg ins Totenreich war ihm für immer versperrt. Nur wer ein reines Herz hatte, ein Herz, leicht wie eine Feder, durfte das Reich des Osiris betreten.“

      Birkenmeyer hielt kurz inne und sah bedeutungsvoll in die Zuschauermenge. „Und jetzt raten Sie, meine Damen und Herren, wo sich die Herzen der Markgrafen befinden?“ Er fixierte noch einmal sein Publikum. „Sie wurden ihnen in herzförmigen Urnen auf ihre Sarkophage gelegt, sodass auch die Markgrafen bei ihrer Reise ins Totenreich ihre Herzen dabeihatten – ganz genauso wie bei den Ägyptern.“

      Ein ungläubiges Staunen ging durchs Publikum.

      „Beweise“, rief jemand.

      Birkenmeyer strahlte. „Wir können zwar die Pyramide nicht betreten – und selbst wenn, könnten wir es nicht sehen, denn die Grabkammer des Markgrafen ist ja zugemauert, wie wir heute wissen – angeblich.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Aber gehen Sie mal am Tag des Denkmals, der übrigens am kommenden Sonntag stattfindet, in die Grabkapelle der badischen Markgrafen im Hardtwald. In der dortigen Gruft im Keller der Kapelle können