begann sich Linthdorf für diese Tiere intensiv zu interessieren. Mit seinem Interesse hatte er auch seine beiden Jungs und seinen Freund Freddy angesteckt.
Sie freuten sich im März auf die ersten zurückkehrenden Kraniche aus dem Süden und speziell auf die Wochen des Sammelns im Herbst. Dann trafen sich hier in den Luchgebieten Brandenburgs die Kraniche aus Skandinavien, dem Baltikum und Nordrussland um noch einmal Kraft aufzutanken bevor es auf den großen Zug nach Süden ging. Zigtausende der silbergrauen Vögel drängten sich dann auf den Luchwiesen, erfüllten die Luft mit ihren Trompetenklängen und flogen in Keilformation über den Köpfen der Beobachter.
Speziell für dieses Schauspiel hatte sich Linthdorf ein langes Wochenende frei genommen. Im Frachtraum seines Cherokee waren diverse Fotoapparate, Teleobjektive und Feldstecher, dazu ein paar Klappstühle, Thermoskannen mit heißem Kaffee und Proviant in Form von Äpfeln, Birnen und Wiener Würstchen. Auf den Rücksitzen hatten es sich seine beiden Jungs bequem gemacht und auf dem Sozius studierte Freddy Krespel eine Landkarte. Den Wagen, einen sogenannten SuV, also eine Mischung aus geländegängigem Jeep und bequemen Mittelklassewagen, fuhr er noch nicht lange. Im Sommer hatte sein alter Daimler den Geist aufgegeben. Als neuen Dienstwagen durfte er sich einen der requirierten Wagen aus dem Arsenal der »Beuteautos« aussuchen. Erinnerungen an die wilde Verfolgungsjagd am Finowkanal wurden wieder wach. Er griff sich daher nach kurzem Zögern den Cherokee, der inzwischen neu lackiert in einem freundlichen silbergrauen Metallic erglänzte.
Linthdorf summte eine Melodie vor sich hin, die er meist bei Ausflügen im Kopf hatte: die Barcarole aus »Hoffmanns Erzählungen«. Dabei störte ihn das Gedudel des Autoradios nicht. Die beiden Jungs hatten einen eigenartigen Musikgeschmack. Er konnte partout nichts mit den neuen Klängen und hämmernden Beats moderner Musikrichtungen anfangen. Aber er tolerierte es weitestgehend. Nur wenn es sich allzu schrill anhörte, drehte er den Sender raus. Dann gab es meist etwas Verstimmung.
Der Wagen bog am Ortsende von Linum in eine kleinere Seitenstraße, die direkt zu den Linumer Teichen führte.
Vor knapp 150 Jahren wurde hier im Linumer Bruch noch Torf gestochen. Die Gegend war ein wichtiger Lieferant dieses als billiges Brennmaterial hoch geschätzten Rohstoffs. Quer durch die Luchlandschaft gab es damals überall Torfstechereien. Nachdem die Kohle den Torf verdrängt hatte, verschwanden die Torfstecher aus der Landschaft. Zurück blieben tiefe Löcher in der Erde. Ein paar findige Leute kamen auf die Idee, diese Löcher zu fluten und in den neu entstandenen Teichen Fische zu züchten. Die Linumer Teiche waren so entstanden. Lange Zeit wurden sie speziell für die Karpfenzucht genutzt. Nach der Wende kamen französische Investoren nach Linum und machten den Teichfischern die Störzucht schmackhaft. Dieser inzwischen wieder im Brandenburgischen heimische Fisch wird vor allem wegen seines Rogens, dem begehrten Kaviar, gut bezahlt. Außerdem gilt sein Fleisch als eine Delikatesse. Das weiße Fleisch des Störs erinnert an junge Karpfen und ist auch als Räucherfisch ausgesprochen wohlschmeckend.
Linthdorf steuerte zielsicher ein unscheinbares Holzhaus direkt vor den Teichen an. Ein unverkennbarer Duft nach frischem Buchenholzrauch schlug ihm entgegen, als er die Tür des Autos öffnete. Seine Augen leuchteten auf und er schnüffelte geräuschvoll den rauchigen Duft ein. Krespel war inzwischen ebenfalls ausgestiegen und begann sogleich seine Kamera zu justieren. In der Luft war das tausendstimmige Konzert der gefiederten Gäste unüberhörbar. Schwäne flogen im Tiefflug ein, Graugänse zogen in schwindelerregender Höhe ihre Kreise und auf dem Wasser war ein buntes Sammelsurium von allen möglichen Federtieren zu entdecken: Blesshühnern paddelten aufgeregt zwischen den bunten Enten und Gänsen herum, weiße Singschwäne kreuzten wie Fregatten vollkommen stoisch auf dem Wasser und am Rande hatten es sich ein paar Graureiher gemütlich gemacht.
Krespels Kamera klickte im Sekundentakt. Auch Linthdorf hatte umständlich seine alte Praktika hervorgeholt. Er bevorzugte immer noch das Fotografieren mit Film. Diese alte Kamera hielt ihn davor zurück, ähnlich wie jetzt Freddy Krespel, wahllos in der Gegend herum zu knipsen. Er wusste, dass sein Filmvorrat begrenzt war. Das zwang ihn, sich stets zu überlegen, ob das Motiv wirklich ein gutes Foto hergab oder nur Banales abbildete. Zu Hause sortierte er dann noch einmal aus, so dass wirklich nur perfekt durchkomponierte Fotos in seinem kleinen Archiv verblieben. Für Linthdorf hatte das Fotografieren etwas Meditatives. Ein wenig Harmonie und Ordnung in seinem Leben, auch wenn es nur auf Zelluloid zu entdecken war, hatte immensen Wert für ihn. Die Fotos mit ihrer stillen Ästhetik waren ein Gegenpol zu seiner oft gewalttätigen und verstörenden Alltagswelt.
Zahlreiche Menschen waren hier versammelt, viele waren mit aufwändigen Fotoausrüstungen ausgestattet um dieses Naturereignis festzuhalten. Die Chance, auf engem Raume so viele Federtiere vor die Linse zu bekommen, hatte man nicht oft. Die kleine Holzhütte mit dem dazugehörigen Räucherofen war gut besucht. Auf den Außenbänken drängten sich die Menschen, ebenfalls an den Tischen im Schankraum.
Ein Duft nach frisch geräuchertem Fisch schlug Linthdorf entgegen und ließ ihn automatisch die Füße Richtung Räucherofen setzen. Krespel folgte etwas widerwillig. Er ahnte, dass es mit der guten Laune Linthdorfs sonst vorbei war, wenn er nicht bald etwas Schmackhaftes bekam.
»Mein Gott, Theo, nun reiß dich doch mal ein bisschen zusammen! Wir sind noch keine fünf Minuten hier und du denkst schon wieder nur ans Essen.«
Linthdorf blickte etwas verstört auf seinen mit Kameras behangenen Begleiter. »Mensch Freddy, wer weiß denn, wie lange es bei diesem Andrang noch was Jutes gibt. Komm schon, außerdem hab ich Hunger.«
Damit drängte er entschlossen durchs Gewühle.
Zehn Minuten später saß er mit einem großen Pappteller voller Fischleckereien, einem Pappbecher mit Bier und zwei Weißbrotkanten an einem großen Holztisch. Krespel hatte sich ein paar kleinere Fischhappen genehmigt und schaute etwas missvergnügt auf Linthdorfs Riesenportion. »Na, konnteste wieda ma nich jenuch kriegen, oller Fressbär!«
Linthdorf blieb erstaunlich gelassen, sortierte die Fischhappen und begann wortreich seinem Begleiter zu erklären, was ihm da entging: »Mensch, guck doch mal, Welsröllchen, Aalhappen, geräucherter Zander, Spießchen mit Lachs, Saibling, Lachsforelle, und als Krönung Stör!«
Schräg gegenüber Linthdorf saß ein Mann, der den Fischliebhaber mit dem großen Teller erstaunt anblickte. Vor ihm stand ein Pappteller, der mindestens genauso gut gefüllt war, wie der Linthdorfs. »Ich kenn Sie doch! Mensch, Linthdorf, ich bin’s: Hauptmeister Boedefeldt aus Linum! Erinnernse sich noch? Na das trifft sich ja jut ... Hähä!«
Linthdorf kam der kugelrunde Mann mit Igelfrisur und dem verschmitzten Gesicht bekannt vor. Natürlich, Roderich Boedefeldt, der findige Dorfpolizist, der erheblich bei der Klärung des Mordfalles Hirschfänger mitgewirkt hatte, war für Linthdorf kein Unbekannter. Seine Orts- und Menschenkenntnis hatte eine schnelle Klärung des Falles ermöglicht.
Linthdorfs Kollegin Louise Elverdink hatte so eine direkte Spur zu dem Psychopathen Peregrinus aufnehmen können. Die Ereignisse überschlugen sich damals. Ein Kollege aus Brandenburg war bei einer nervenaufreibenden Hetzjagd zu Tode gekommen. Die ganze Jagd lief innerhalb von Sekundenbruchteilen noch einmal durch Linthdorfs Hirnwindungen. Blitzlichtartige Bilderfetzen, die beklemmende Atmosphäre am nebligen Finowkanal und die zermürbenden Ermittlungen, die vollkommen ins Leere zu laufen schienen. Drei Monate im Winter hatte sich Linthdorf mit der Suche nach dem ominösen Nixenmörder beschäftigt.
Nachdem der Fall abgeschlossen war, hatte sich der Kommissar plötzlich leer und ausgebrannt gefühlt wie lange schon nicht mehr. Seinen ganzen Jahresurlaub hatte er gebraucht um wieder in die Balance zu kommen. Der Sommer war nur als eine kurze Episode von ihm wahrgenommen worden. Noch lange geisterten die toten Nixen und der Nixenschatz durch seine nächtlichen Träume, manchmal so intensiv, dass er plötzlich wie von einer Tarantel gestochen aufwachte, schweißüberströmt im Bett saß und Schwierigkeiten hatte, wieder einschlafen zu können. Er war selbst erstaunt über sich und seine Reaktionen auf dieses Verbrechen.
Eigentlich ließ er sonst seine Gefühle außen vor, wenn er ermittelte, aber hier lagen seine Nerven blank. Vielleicht waren es die vielen Todesfälle im Zusammenhang mit der Suche nach dem Schuldigen, vielleicht war es auch das etwas schale Gefühl beim Abschluss des Falles, versagt zu haben, da die wirklich