Petra Nikolic

Die Frauen meines Lebens


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Petra Nikolic, geboren in Frankfurt am Main, studierte Publizistik, Philosophie und Amerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Nach dem Master-Abschluss arbeitete sie zunächst als Redakteurin bei deutschen und britischen Radiosendern. Dann wechselte sie vom Hörfunk- zum Zeitungsjournalismus, um als freie Journalistin für Zeitungen wie Die Zeit, Die Rheinpfalz, Rhein-Neckar-Zeitung, AZ Mainz, Westfälische Nachrichten sowie Frankfurter Neue Presse zu schreiben. 2010 gewann sie mit der Erzählung „Meine Clarissa“ den Literatur-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung.

      für Clarissa und Dominik

      Lindemanns Bibliothek, Band 198

      herausgegeben von Thomas Lindemann

      © 2013 · Info Verlag GmbH

      Käppelestraße 10 · 76131 Karlsruhe

      Alle Rechte vorbehalten.

      Nachdruck ohne Genehmigung

      des Verlages nicht gestattet.

      ISBN 978-3-88190-743-9

       www.infoverlag.de

      Petra Nikolic

      Die Frauen

       meines Lebens

      Vorwort

      Die Inspiration zu diesem Buch gab die Süddeutsche Zeitung. Sie hatte im März 2010 die ungewöhnliche Idee, Frauen über die Frauen ihres Lebens schreiben zu lassen. „Die Frau meines Lebens“ ist eigentlich ein typischer Männersatz. Doch auch im Dasein von Frauen gibt es Begegnungen mit Frauen, die prägend und unvergesslich sind. Ich nahm mit der Kurzgeschichte „Meine Clarissa“ an dem Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung teil – und gewann. Ein Stein war ins Rollen gekommen. Ich schrieb noch sieben weitere Geschichten über besondere Frauen und ihre Lebenswege, die sich kreuzen, die sich verlaufen, die auseinander gehen, die sich wieder treffen oder für alle Ewigkeit vom Schicksal getrennt werden. Entstanden sind acht Porträts, sieben zauberhafte Frauen und eine entzauberte Frau.

      Die Erzählungen sind authentisch, alle Personen entspringen der Realität. Nur bei einer der Geschichten habe ich mir erlaubt, einen etwas fantastischen Schluss zu wählen. Auch enttäuschende Freundschaften haben ihre Diamanten, die erst später funkeln.

      Sonia aus Bolivien lernte ich in Madrid durch meinen Sohn kennen, deshalb ist diese Erzählung aus seiner Perspektive geschildert. Es musste über ihr Elend geschrieben werden, sonst ändert sich nichts. Aus diesem Grund war mir ihre Geschichte auch besonders wichtig.

      Es gehört zu meinem Beruf als Journalistin, neugierig auf Menschen und ihre Lebenswege zu sein. Man kann diese Geschichten jedoch nicht finden, wenn man nur auf Pressekonferenzen geht oder abgestimmte Interviews führt. Stattdessen habe ich versucht, ganz nah an meine Protagonistinnen heranzutreten, ihnen fast unter die Haut zu kriechen, um auf diese Weise ihre Geheimnisse aufzuspüren. Ich habe mich so lange festgebissen, bis das fremde Leben so durchsichtig war, als wäre es mein eigenes.

      Das Schönste am Schreiben ist der Augenblick, in dem man plötzlich alles erkennt und versteht. Als ich die Geschichten aufschrieb, war es wie ein Gleiten zwischen den verschiedenen Tonarten des Lebens – zwischen heiter und ernst, freudig und traurig. Es gibt ein dicht gewobenes Netz, das alle Geschichten miteinander verbindet: das Flechtwerk der Liebe. Das Buch gewährt Einblicke in die Lebenslinien faszinierender Frauen. Es sind ihre Geschichten, die vom Leben an sich handeln.

      Eines habe ich dabei gelernt: Eine Geschichte ist nie zu Ende, sie folgt immer dem, der sie gehört hat.

      Petra Nikolic

      Meine Großmutter

       oder

       Das Glück liegt in mir

      Du sitzt vor mir und bist wütend. Es ist keine Wut, die mit Donnergetöse und Fauchen kommt, es ist eine kleine, feine Wut, wie das Summen einer Biene, die sich im Zimmer verirrt hat und nun den Weg nach draußen sucht.

      „Er hat mir schon wieder die Haare zu kurz geschnitten“, sagst du zornig.

      „Warum schimpfst du so? Ich finde deine Frisur sehr schön!“, antworte ich und streiche mit den Fingern durch die kurzen silbernen Locken. Sie fühlen sich weich und zart an – wie Daunen.

      „Ich habe es ihm schon hundert Mal gesagt: Ich will die Haare über den Ohren länger haben, damit man mein Hörgerät nicht sieht.“

      Ich muss schmunzeln. Auch mit 92 Jahren erlaubst du dir noch, ein wenig eitel zu sein. Dann sehe ich plötzlich das Glitzern in deinen Augen, das ich so gut kenne, und mit dem du immer in die Vergangenheit reist. Du schaust mich an und ich spüre, wie die Luft vibriert. Dann beginnst du zu erzählen:

      „Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, als ich beim Friseur war, um mir meine langen Zöpfe abschneiden zu lassen. Es war ein ganz besonderer Tag. Es war der Tag, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg gestorben ist.“

      Das ist einer jener Sätze, den nur meine Großmutter sagen kann. Er ist einmalig. Kein anderer Mensch auf dieser Welt teilt mit ihr dieses Erlebnis. Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und damit den Nationalsozialisten den Weg geebnet hatte, starb am 2. August 1934. Da war meine Großmutter 14 Jahre alt. Ein Teenager auf dem Weg zu einer jungen Frau. In einer Zeitschrift hatte sie die Bilder der „Flappers“ gesehen, jener jungen Frauen, die in den Kreisen der Bohème Charleston tanzen. Sie trugen die Haare ganz kurz im Nacken. So wollte Großmutter auch aussehen. Die Zeit der Jungmädchenzöpfe war vorbei. Sie saß gerade im Friseurgeschäft und wartete gespannt auf ihre neue Frisur, als die Nachricht vom Tod Hindenburgs im Radio kam.

      Wenn meine Großmutter über diese Zeit spricht, dann höre ich Lautsprecher erschallen, Schlachtrufe ertönen, Hitler-Geschrei und ich sehe Menschen, die Hakenkreuzfahnen schwenken. Mittendrin entdecke ich ein kleines, zierliches Mädchen, das verloren mit einem Paar Zöpfen in der Hand durch die Straßen geht.

      Großmutter hat nie geschimpft über den Krieg, nie mit dem Schicksal gehadert, obwohl die Kriegsjahre auch ihr Leid und Tod gebracht haben und sie mehr verloren hat als nur zwei Zöpfe.

      Meine Oma Elisabeth wird am 3. März 1920 in Frankfurt geboren. Ihre Kindheit ist glücklich – bis zu dem Tag, als ihr Vater die Familie verlässt, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Sie ist jünger als ihre Mutter und wohnt in einem Viertel von Frankfurt, das man als anständiger Bürger nicht betritt. Bald gibt es keinen Kontakt mehr.

      „Ich durfte meinen Vater nicht besuchen, meine Mutter hat es nicht erlaubt.“

      Kurz darauf zieht ein anderer Mann in das Haus ein. Er ist sehr streng. Wenn die Kinder nicht parieren, gibt es Ohrfeigen. Großmutter mag den Mann nicht, den man ihr als neuen Vater vorsetzt:

      „Er hatte einen gewaltigen Schnurrbart. Die Barthaare gingen weit nach unten und dann in einen Bogen nach oben. Die Enden seines Bartes hat er immer mit einer furchtbar stinkenden Bartwichse nach oben gezwirbelt. Mein Stiefvater trug einen richtigen Kaiser-Wilhelm-Bart. Beim Essen blieb immer etwas in seinem Bart hängen. Mein Bruder und ich haben darüber heimlich gelacht.“

      Großmutter wird früh erwachsen, weil sie einen kühlen und wachen Verstand braucht, um aus dem tristen Umfeld zu Hause zu entfliehen. Sie ist erst 17 Jahre alt, als sie meinen Großvater heiratet. Kennengelernt hat sie ihn mit 16 Jahren. Nach der Schule beginnt sie eine Schneiderlehre. Auf dem Weg zur Schneiderei begegnet sie Großvater. Jeden Morgen und jeden Abend sieht sie ihn in der Straßenbahn sitzen.

      „Er hat immer so getan, als würde er die Zeitung lesen, aber heimlich hat er mich beobachtet. Ich habe seine Blicke gespürt und bekam richtig Gänsehaut.“

      Dann eines Tages kommt es zur ersten Begegnung.

      „Ich