dem Kinderhort. Sie war beliebt, deshalb sind auch viele ältere Frauen, die schon lange in Rente sind, mit nach Frankfurt zur Beerdigung gekommen.
Du nimmst Karins Tod an wie einen Besucher, der unangekündigt vor der Tür steht. Du leidest, aber du zeigst dein Leid nicht. Du hast ein Schatzkästchen in deinem Inneren, in dem du all die wunderbaren Erinnerungen an sie aufbewahrst. Und wenn die Traurigkeit kommt, öffnest du das Kästchen. Und du wirst noch immer gebraucht: Du schreibst für den Blumenladen von Heidi die Rechnungen für die Kunden. Auf einer alten Schreibmaschine tippst du sie und bringst sie dann selbst zur Post. Und wenn im Blumenladen am ersten Advent die Adventskränze verkauft werden, stehst du hinter der Theke und schenkst Glühwein für die Kunden aus.
Und plötzlich, wenn du glaubst, dass dich keiner sieht, nimmst du einen besonders schönen Kranz und legst ihn auf Karins Grab. Ich aber habe dich beobachtet, wie du klein und schmal und mit deiner würdevollen Grazie den verschneiten Weg über den Friedhof gegangen bist. Du hast keine Sekunde gezögert, denn du kanntest deinen Weg ganz genau. Das hast du immer getan.
Meine Clarissa
oder
Die Frau meines Lebens
(aus der Süddeutschen Zeitung)
Zwei dunkle Augen schauen mich an, in denen der Schmerz und die Weisheit der ganzen Welt zu liegen scheinen. Sie war erst neun Jahre alt, doch ihre Augen blickten, als habe sie schon alles im Leben gesehen und verstanden. Ich lernte Clarissa durch eine Anzeige kennen.
Um während meines Studiums etwas Geld zu verdienen, wollte ich Schülern Nachhilfeunterricht geben. Im örtlichen Anzeigenblatt, das einmal in der Woche kostenlos an alle Haushalte verteilt wurde, hatte ich eine Anzeige geschaltet und darin angeboten, zu den Schülern nach Hause zu kommen. Clarissa wohnte mit ihren Eltern in einem Hochhaus in der Frankfurter Nordweststadt. Die Architekten dieser in den 60er Jahren errichteten Trabantenstadt im Norden Frankfurts hatten versucht, durch das Nebeneinander von Hochhäusern und Einfamilienhäusern die sozialen Schranken aufzubrechen. Doch die Durchmischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen war nicht geglückt. Die Familien aus den Einfamilienhäusern zogen bald in die besseren Stadtviertel, und die Nordweststadt wurde zu einem sozialen Brennpunkt. Die Siedlung bot jedoch auch einen Vorteil: Sie war reich an Grünflächen und Spielplätzen, was sie zu einem Paradies für Kinder machte und die triste Trabantenstadt mit Fröhlichkeit und Leben erfüllte.
Clarissa lebte mit ihren Eltern in einem Hochhaus. Frankfurt ist die Stadt der Hochhäuser. Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele und so hohe Wolkenkratzer wie in Frankfurt. Das Hochhaus, in dem Clarissa wohnte, stand nur wenige Meter vom Nordwestkrankenhaus entfernt. Dazwischen lag ein weiterer schmuckloser Bau – das Schwesternwohnheim. Die Straße hatte den Namen „Steinbacher Hohl“, da hinter den Feldern, auf die man am Ende der Straße stieß, das kleine Städtchen Steinbach lag. Das Hochhaus stand wie ein Klotz in einer langen Kette von Reihenhäusern. Es sah aus wie alle Hochhäuser in Frankfurt: Die Fassade war mit Graffiti-Zeichnungen beschmiert, die Briefkästen mit halb abgerissenen Stickern beklebt und vor dem Eingang standen kaputte Einkaufswagen, die keiner mehr zurückbringen wollte. In dem dunklen Hausflur hing der Geruch von abgestandenem Essen. Meine Schritte hallten auf dem kalten Betonboden wie in einem Kellergewölbe. Ich fuhr in dem mit Kaugummis beklebten Aufzug in den 15. Stock hoch. Eine blonde junge Frau öffnete mir die Tür.
Clarissas Mutter war groß und schlank, sie hatte ein hübsches Gesicht mit dunklen Augen. Ihre Gesichtszüge waren sanft. Das einzig Strenge in ihrem Gesicht war der Pony. Sie hatte ihre Haare blond gefärbt, was man am Haaransatz sah, aber die Farbe war nicht aufdringlich. Sie war gut und geschmackvoll gekleidet. Sie schien nicht zu der Umgebung zu passen, in der sie lebte. Die Wohnung wirkte sehr weiblich – mit vielen Pastellfarben und unzähligen kleinen Porzellanpüppchen und Tierfiguren aus Glas, die auf Regalen und Tischen standen.
Wir setzten uns auf ein weißes Sofa. Clarissa war auf dem Spielplatz; das erste Gespräch zum Kennenlernen sollte ohne sie stattfinden. Ich war erstaunt, dass eine Schülerin in der Grundschule schon Nachhilfe brauchte. Ihre Tochter sei schon sehr selbstständig und gewissenhaft. Aber in letzter Zeit habe sie die Hausaufgaben oft vergessen und ihre Noten in der Schule wurden schlechter, berichtete die Mutter. Wichtig war für sie, dass jemand jeden Tag zu Clarissa kam und dafür sorgte, dass sie ihre Hausaufgaben ordentlich machte. Wir waren uns beide sympathisch und die Arbeit erschien mir einfach.
Wir einigten uns schnell und dann rief sie Clarissa nach oben. Ich war gespannt. Die Tür ging auf und ein kleines Mädchen mit langen dunklen Haaren kam herein. Sie setzte sich auf die Couch und schmiegte sich an ihre Mutter. Große fragende Augen schauten zu mir. Wir blickten uns einige Zeit stumm an, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie nickte ihrer Mutter zu. Damit war der Vertrag besiegelt, mehr war nicht notwendig gewesen. Wir gingen zusammen die Treppe hinunter, und ich wusste in diesem Augenblick, dass dieses kleine Mädchen mir noch viel bedeuten würde.
Ich wurde nicht nur Clarissas Nachhilfelehrerin, sondern auch ihre beste Freundin, der sie sich anvertrauen konnte. Clarissa war ein Schlüsselkind. Sie trug den Schlüssel zu ihrer Wohnungstür immer an einem rosa Band um den Hals. Ihre Mutter, die als Verkäuferin auf der berühmten Einkaufsstraße „Zeil“ arbeitete, ging morgens weg und kam erst spät am Abend wieder nach Hause. Ihr Vater war im Außendienst und selten zuhause. Damit war das neunjährige Mädchen den ganzen Tag auf sich gestellt. Sie fuhr mit dem Fahrrad zur Schule, kochte sich allein Mittagessen und machte anschließend ihre Hausaufgaben.
Ich legte meinen Vorlesungsplan an der Uni so, dass ich die Nachmittage frei hatte und zu ihr fahren konnte. Wenn ich kam, wartete sie meist schon unten auf dem Spielplatz vor dem Haus auf mich. Einmal war ich etwas früher da als sonst. Clarissa hatte mich nicht kommen sehen. Sie saß auf einer Bank und blickte starr nach vorne. Es war, als hätte sie einen Schleier vor dem Gesicht. Sie kam mir unendlich verloren vor, wie sie allein auf der Bank saß, abgeschnitten von allem Geschehen um sie herum. Ich rief sie. Im gleichen Augenblick sprang sie auf, schüttelte sich, als ob sie einen bösen Albtraum abwerfen wollte, und lief lächelnd auf mich zu. „Hast du keine Freunde, mit denen du spielen kannst?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Hier in dem Haus nicht. Aber in der Schule schon“, antwortete sie.
Jedes Mal wenn ich die Wohnung betrat, war sie aufgeräumt wie bei meinem ersten Besuch. In der Spüle stand das gespülte Geschirr vom Mittagessen und im Wohnzimmer lagen schon die aufgeschlagenen Hefte. Die Ordnung und Gewissenhaftigkeit erstaunten mich. Mir erschienen sie wie ein Schutzschild gegen den Schmutz und die Zerstörungskraft, die von außen auf das Hochhaus einwirkten. Wenn wir über den Hausaufgaben im Wohnzimmer saßen, war manchmal noch Mariechen dabei, ihre Schildkröte, die unter dem Tisch herumkrabbelte. Clarissa kannte sich mit der Lebensweise von Schildkröten aus. Sie wusste genau, was sie Mariechen zu fressen geben durfte und was nicht. Lachend erzählte sie mir, dass Mariechen manchmal die Fußzehen ihrer Mutter anknabberte, wenn sie rot lackiert waren, weil sie die Zehen dann für Tomaten hielt.
Clarissa war eine aufgeweckte und intelligente Schülerin, die Zusammenhänge schnell erfassen konnte. Die Hausaufgaben waren kein Problem für sie. Meist waren wir schnell mit allem fertig und hatten noch viel Zeit, um nach draußen zu gehen. Ich begann mich schon zu wundern, warum sie Hilfe bei den Hausaufgaben brauchte.
Dann erlebte ich eines Tages eine völlig veränderte Clarissa. Sie wartete diesmal nicht auf dem Spielplatz auf mich. Als sie mir die Tür öffnete, sah ich sofort, dass sie geweint hatte. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihren Augen. Bei den Hausaufgaben wirkte sie übernächtigt und unkonzentriert. Plötzlich konnte sie selbst leichte Rechenaufgaben nicht mehr lösen. Ich erkannte sie nicht wieder und hatte für diese Wandlung keine Erklärung. Ich wollte sie jedoch nicht mit dieser Traurigkeit allein lassen. Nachdem wir mit den Hausaufgaben fertig waren, tastete ich mich ganz vorsichtig an sie heran und lernte dabei ihr Geheimnis kennen.
Wenn ihr Vater von der Montage nach Hause kam, gab es immer Streit zwischen den Eltern. An manchen Tagen eskalierte der Streit so sehr, dass ihr Vater die Mutter schlug. Trotzdem liebte sie ihren Vater und freute sich jedesmal, wenn er heimkam. Ihre Mutter habe ihr erklärt, dass sie sich streiten, weil sie zu unterschiedlich sind. „Sie kommen von verschiedenen Planeten. Meine Mutter ist von der Venus und mein Vater ist vom Mars“,