Cheese erinnerte mich an den Weihnachtsmann. Crackers, seine Frau, winkte mir zu, doch noch bevor ich ihm für die Großzügigkeit danken konnte, war Cheese schon wieder eingeschlafen. Vorsichtig bahnte ich mir den Weg durch die zerbrochenen Möbel, sah das verkrustete Essen und die halb geleerten Bierflaschen auf dem Tisch. Ich schüttete ein Glas Wodka aus und füllte es mit geronnener Milch. Dann trat ich vor die Tür auf die eiskalte Straße und musste an wahre Helden denken. Sie trugen keine Umhänge, flogen nicht und setzten sich keine goldenen Masken auf. Manchmal hatten sie dickes rotes Haar wie ein Pferdeschwanz, steckten in einer versifften Jeans und stanken.
Die ganze Zeit über wartete ich, um einen kurzen Blick auf die gebrochene Kupferglocke zu werfen mit ihrem Klöppel, der über 20 Kilo wog, und dachte dabei an das zerknitterte Geld in meiner Tasche. Ich wollte, dass Mum und ich dieses Gefühl der Freiheit zusammen erleben. Es war bitter kalt. Um mich herum hörte ich das heisere Krächzen von Krähen. Der Tau auf dem leblosen Gras durchnässte meine Schuhe. Ich trug halbfingrige Handschuhe, und die Fingerkuppen verfärbten sich ganz blau. Ich kaufte eine Miniaturglocke aus dem Souvenirgeschäft. Der Klöppel war beweglich, und immer wenn ich die Glocke zur Seite legte, ertönte ein Läuten. Aus der Nähe betrachtet, machte die reale Freiheitsglocke, lange der Witterung ausgesetzt, einen reichlich zerbeulten Eindruck. Durch die Mitte zog sich ein langer Riss, doch ich fand sie schön. Ich konnte es nicht erwarten wieder bei Mum zu sein, in das Wohnzimmer zu rennen und mein Souvenir zu präsentieren.
Um zwei Uhr nachmittags betrat ich das Haus und fühlte mich, als würde ich in eine Höhle kriechen. Das gedämpfte Licht warf bizarre Schatten in den Flur. Halbnackte Frauen vergruben ihre Köpfe zwischen den Schenkeln unbekannter Männer. Mutter schrie wie eine Sirene. Schwere Vorhänge blockierten die Sonnenstrahlen. Der beißende Gestank unbekannter Chemikalien stieg in meine Nase. Ein Unbekannter stand am Herd und kochte. Er hatte das verdreckte Gesicht eines Trolls – war blass und pickelig. Um seinen Hals zog sich ein Stacheldraht-Tattoo. Als ich die Küche betrat, schaute er kaum auf.
„Guck mal, was ich dir mitgebracht habe!“ Ich hielt die Glocke vor ihr Gesicht und ließ sie bimmeln. Sie fuhr mich wie ein tollwütiges Tier an, warf mir Beleidigungen an den Kopf, spuckte und riss mir das Souvenir aus der Hand, um es in die nächste Lampe zu werfen.
„Verschwendung“, kreischte sie, außer sich vor Wut. „Du hast dein Geld für so eine Scheiße ausgegeben?!“ Ich versuchte ihre Stimme abzublocken, zitterte aber innerlich. Das war nicht meine Mum. Das war meine Mum auf Drogen. Glas zerschepperte um mich herum. Ich fiel auf die Knie und durchsuchte unbeholfen die Scherben, um die Freiheitsglocke wieder zu finden. Doch ich konnte nicht weinen, denn alles was ich fühlte, war eine unendliche Traurigkeit. Irgendwie tauchte Cheese aus dem ganzen Nebel auf und umfasste meine kleinen Hände.
„Du weißt doch – sie meint das nicht so.“ Er blinzelte mich durch die dicken Brillengläser an. „Sie ist nicht sie selbst.“
Ich sah ihn nicht an, denn meine Augen starrten nur auf den Scherbenhaufen. Der Ausraster von Mum hatte mich wie ein Wirbelsturm getroffen.
„Sie versucht ihr Möglichstes, Kleiner.“ Cheese seufzte.
Ja, das wusste ich.
„Wir können dir helfen“, dröhnte die Schulleiterin, aber ich hörte schon nicht mehr zu. Mein Blick hatte sich an den Hals der grauen und faltigen Frau geheftet, der Truthahnfleisch ähnelte.
„Wir können den Sozialdienst einschalten ….“ Bla, bla, bla.
Ich will doch nur ein Traktor- oder Lkw-Fahrer werden.
Später am Vormittag holte mich Großmutter von der Schule ab. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen.
„Von der Schule verwiesen? Er ist doch erst acht Jahre“, bettelte sie die Direktorin an, darauf hoffend, das sie den Entschluss rückgängig macht.
Ich bin kein normaler Achtjähriger. Unsicher stand ich auf und spürte dabei die Erleichterung. Ich könnte nach Hause, endlich die Schule verlassen. Auch Mum musste nichts befürchten. Die Jugendfürsorge würde mich nicht abholen. Ich hatte schon Geschichten gehört, dass man Kinder wegen Vernachlässigung oder Missbrauch einfach ihren Eltern entriss. Ein Teil von mir versuchte deshalb immer anständig und normal zu wirken – ich wollte nicht weg. Alles in allem war Mum keine schlechte Mutter. Sie war nur ständig high. Die zahllosen Selbstmordversuche waren für sie nur eine Entschuldigung. Aber damals verstand ich das Wort Vergebung noch nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es heute überhaupt verstehe. Möglicherweise dachte Mum, dass sie einfach verschwinden und damit die Schmerzen und die Zerstörung beenden könnte. Sie erkannte nicht, dass Abhängige bei ihren Opfern, die sie trotz aller Probleme lieben, eine lebenslange Narbe hinterlassen. Es gab Leute, die fest daran glaubten, mich retten zu können, aber das würde voraussetzen, dass ich gerettet werden wollte. Ich wollte einfach nur normal sein. Vielleicht waren diese Leute normal?
„Er hat die Hose runtergezogen und dem ganzen Spielplatz seinen Po gezeigt – sogar der Lehrer stand dabei“, erklärte die Direktorin mit ruhigen Worten und räusperte sich. Auf der Stirn meiner Großmutter zeigten sich Sorgenfalten. Sie sah mich an, sah wieder weg, als würde sie sich krampfhaft vorzustellen versuchen, wie ein so kleiner Junge eine so ungehörige Tat begehen konnte.
„Warum tust du uns das an – nach all dem, was wir für dich gemacht haben?“ Ihre Stimme klang schrill und überschlug sich, als wir zu Hause angekommen waren.
Ich hatte nun mal keine Vorstellung davon, wie ein anderes Leben aussehen könnte. Jeden Tag starb ein Stück von mir, verschwand wie ein Negativ, das nicht richtig entwickelt wird.
„Jetzt weinst du auch noch! Ich werde dir mal zeigen, warum man weinen muss. Zieh die Hosen runter.“ Grandma legte mich umständlich übers Knie – in einer engen Küche, zugemüllt mit Papierbergen und zerbrochenen Brillen. Ich musste bei jedem Schlag ihrer Hand auf meinen nackten Hintern lachen – bis mir die Tränen an den Backen runter kullerten.
„Ich werde dich deiner Mutter zurückgeben.“ Am nächsten Morgen schubste sie mich gefühllos in Mums Arme. Glücklicherweise war Mum gerade bei Karl eingezogen, der in einem Apartment in Sharon Hill hauste. Endlich konnte ich mich an einem Ort verkriechen, um zu schlafen – und tauschte doch nur eine Hölle gegen die andere aus.
LTs Mum, Kim Menginie, und ihr Bruder „Uncle Kirk“ bei der Feier von Kims 26. Geburtstag.
Karl wohnte in einer von vier Dachgeschosswohnungen, die ein Teil eines von der Regierung unterstützten Wohnprojekts darstellten. Mum und er teilten sich den beengten Raum mit anderen Drogenfamilien, die wie Nomaden umherirrten: Chrissy und ihre Tochter, Marcy, Maria und ihre beiden Söhne. Es war hoffnungslos überfüllt. Jede Familie kam mit ihren wenigen Habseligkeiten – Möbeln mit zerkratzen Oberflächen, alten, zusammengeleimten Stühlen und Unmengen verdreckter Matratzen, die sie selbst nicht mehr wieder erkannten, vielleicht gestohlen hatten, aber auf jeden Fall behalten wollten. Marcy war nur ein wenig älter als ich, aber eine willige Teilnehmerin an sexuellen Experimenten. Darum fand ich es nicht so schlimm, dass ich mir den Platz mit all den unterschiedlichen Leuten teilen musste.
Jede Familie besaß Regale für Dosenfleisch und Kartoffeln, und alle teilten sich den Kühlschrank. Essensmarken stellten eine begehrte Währung dar und wurden auch tatsächlich für den Kauf von Essen genutzt und nicht in Drogen oder Alkohol investiert.
Ich schnitt Stücke von einem fluoreszierenden Käseblock, steckte sie in den Mund, wo sie auf meiner Zunge zu einer leckeren, dicken Paste zerronnen. Der Geschmack erinnerte mich an geordnete Verhältnisse, an Mum und Dad, die zusammen in unserem alten Haus in Upper Darby Nudeln kochten. Ihre Gesichter, die von Wasserschwaden verdeckt wurden und dabei Phantomen glichen, brachten das Wort Familie zurück in mein Gedächtnis. Die Routine wirkte damals wie eine große Erleichterung auf mich. Egal was es am Tag für Probleme gegeben hatte – zumindest aßen wir am Abend noch gemeinsam.