Josef Nussbaumer

Unser kleines Dorf


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noch mehr. Übrig geblieben sind rund 65 Hektar, wobei auch davon vieles „verwandelt“ worden ist: Der „unberührte“, höchstens besuchte „Urwald“, vor 10.000 Jahren noch etwa 100 Hektar groß, ist heute auf einen Rest von 15 Hektar zusammengeschrumpft. Das bleibt nicht ohne Einfluss – weder auf das Klima, noch auf die lokalen Lebensbedingungen. Daher spielt es auch nicht die entscheidende Rolle, dass dieser Raubbau heute vor allem in den ärmeren Regionen des Dorfes stattfindet,41 was ja zudem nicht zuletzt deshalb geschieht, um die Ressourcennachfrage der Reichen zu befriedigen. „Was wir den Wäldern auf der Welt antun, ist nur ein Spiegelbild dessen, was wir uns selbst und einander antun.“, soll dazu Mahatma Gandhi einmal gesagt haben.42

      In etwa die Hälfte der gesamten Landfläche ist bereits durch direkten menschlichen Einfluss verändert worden, mit negativen Folgen für Artenvielfalt, Bodenstruktur, Nährstoffkreislauf, Biologie und Klima und damit für das Weiterleben in Globo. Dazu ein kaum bekanntes, aber sehr wichtiges Beispiel: Bevor sich der Mensch Ackerbau und Viehzucht zuwandte, konnte sich in Globo ungestört von menschlichen Eingriffen eine große Menge an Mutterboden (Humus) bilden. Dieser fruchtbare Boden wurde quasi als Einstandsgeschenk seitens der Natur – der „Mutter Erde“, wie sie in vielen Traditionen heißt – den Menschen zur Verfügung gestellt. Dieses „Geschenk“ ist heute vielfach vergessen worden, daher wird sein Verbrauch auch nicht wirklich bemerkt. Es ist allerdings trotzdem die absolute Basis für das Überleben aller Menschen in Globo, auch jener in den reichen Teilen des Dorfes. Insgesamt beträgt der Verlust an Humus dort bereits rund 400 Tonnen pro Jahr, mit den zu erwartenden Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Erträge.43 Es soll dabei Regionen im Dorf geben, wo allein in den letzten 50 Jahren der Humusanteil an der ja alles andere als dicken Erdschicht von acht auf ein Prozent gesunken ist, und es sollen bereits etwa zwei Drittel der Ackerflächen und ein Drittel der gesamten Grünflächen betroffen sein.

      Generell ist festzuhalten, dass möglicherweise bereits die Hälfte aller Kulturböden in Globo „degradiert“ sind, also verarmt.44 Es gibt dafür eine ganze Reihe von Auslösern wie Entwaldung, Erosion, Überweidung, Übernutzung, unsachgemäße Bewirtschaftung, Verschmutzung und anderes mehr.45 Die schlimmste Form der „Degradation“ stellt dabei die „Desertifikation“ dar, also die Wüstenbildung. Bereits etwa 20 Bewohnerinnen und Bewohner von Globo leben in Regionen, die davon bedroht sind.46

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      Dass solch gravierende Veränderungen auch Auswirkungen auf die „Biodiversität“ haben, also die Vielfalt an Tieren und Pflanzen, ist unvermeidlich (wobei eine Abnahme der Biodiversität wiederum die Verarmung der Böden tendenziell begünstigt). Dabei ist diese Artenvielfalt auch noch nach Einführung der Landwirtschaft weiter gestiegen, bis sich dieser Trend vor einiger Zeit umzukehren begann und es gerade im Zeitalter des Anthropozän zu einem sich ständig beschleunigenden Abbau an Vielfalt gekommen ist.47 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Generosion“ und meint damit nicht zuletzt den Verlust an Selbstheilungskraft der Natur: Man denke nur an die verheerenden Auswirkungen, die eine aggressive Pflanzenseuche trotz aller Vorsichts- und Gegenmaßnahmen in den Monokulturen haben könnte, die die inzwischen für viele Menschen in Globo lebensnotwendige Agrarindustrie prägen.

      Nun folgen aber Inhalte, die im Kapitel „Wirtschaft“ vielleicht eher erwartet werden, nämlich Angaben zu Einkommen (bzw. Produktion), Lebensstandard, Verteilung, Rohstoffen und Handel (andere Aspekte, z.B. Arbeit und Konsum, kommen in späteren Kapiteln). Sie werden hier bewusst nachrangig behandelt, denn letztlich – auch das wird oft vergessen – basiert das Überleben der Menschen nicht auf einer abstrakten „Wirtschaft“, sondern auf ausreichend Nahrung.

      Auskommen mit dem Einkommen

      Die Ökonomik ist die Wissenschaft von der Knappheit. Interessanterweise ist ihre Begrifflichkeit trotzdem eher am „Einkommen“ ausgerichtet, als an der Frage, wie Menschen damit „auskommen“. Zudem neigen viele Ökonominnen und Ökonomen dazu, in monetären Größen zu denken, also in Geld, überlegen aber nur selten, wie angemessen das jeweils ist. Gemessen wird das Einkommen (bzw. die Produktionsleistung) dann z.B. in inflationsbereinigter „Kaufkraft“, also „real“, wie das in der Ökonomik heißt, woran sich auch dieses Buch orientiert, wenn „$“ angegeben werden („US$“ oder „Euro“ sind hingegen nominell zu lesen).48 Rückschätzungen der Produktionsleistung ergeben dann z.B., dass das „Dorfsozialprodukt“ pro Kopf und Jahr vor 2.000 Jahren rund 470 $ betragen hat, wobei dieser Wert direkt mit heute vergleichbar ist. Das entspricht einer gesamten Produktionsleistung der damals in Globo lebenden 5 Menschen von rund 2.300 $. Ausgedrückt in Pro-Kopf-Größen veränderte es sich in der Folge kaum und war um 1500 auf rund 570 $ gestiegen (bzw. rund 4.500 $ insgesamt). Pro Kopf und Tag standen den Menschen jener Zeit also im Durchschnitt nur 1,30 bis 1,60 $ zur Verfügung, wobei sie in einer ökonomisch nahezu stagnierenden Welt lebten.49

      Es kann kaum genug betont werden, wie fremd dieses Lebensgefühl allen Bewohnerinnen und Bewohnern der reichen Teile von Globo bereits seit Jahrzehnten ist. Das mag vielleicht ein Grund für die große Aufmerksamkeit sein, die der aktuellen Krise in der Dorfwirtschaft gewidmet wird (auf sie wird im Epilog noch zurückzukommen sein). Sie spielt sich auf völlig unvergleichlichem Niveau ab, denn schon im Jahr 2000 betrug das Einkommen in Globo bereits durchschnittlich mehr als 6.000 $ pro Kopf (insgesamt also 600.000 $), in den reicheren Weilern sogar mehr als 20.000 $. Zudem wächst es (zumindest bis 2007) fast ständig um mehrere Prozent jährlich – und das nicht nur absolut, sondern auch im Hinblick auf die Ungleichheit der Einkommen, die ebenfalls ständig zunimmt.

      Diese Entwicklung vollzog sich natürlich nicht ohne Brüche. Im 20. Jahrhundert kam es zu zwei großen Kriegen und einer schweren Wirtschaftskrise. Dabei starb im Gefolge des ersten großen Krieges einer der damals 29 Menschen im Dorf an einer Grippe-Epidemie, und im zweiten Krieg einer von 40 durch die Kämpfe, zudem kam es zu furchtbaren Zerstörungen in Teilen des Dorfes. Erst nach diesen großen Krisen beschleunigte sich der Anstieg des Einkommens wieder, wenn auch ungleichgewichtig. Alles in allem verzehnfachte sich das Pro-Kopf-Einkommen während des Anthropozän, in Summe kam es sogar zu einer Versechsundfünfzigfachung des gesamten Dorfprodukts zwischen 1820 und 2000 auf insgesamt 601.235 $, grob verteilt auf eine Versiebenfachung vor und eine weitere nach 1950.50

      Bislang war nur von der durchschnittlichen Entwicklung in ganz Globo die Rede, die aber bekanntermaßen nichts über Details aussagt. Was aber die Verteilung des „Dorfkuchens“ auf einzelne Weiler betrifft, ist zu betonen, dass sie ausgesprochen ungleich und daher möglicherweise ungerecht ausfällt, wobei auch dieses Phänomen erst während des Anthropozän in relevantem Ausmaß aufgetreten ist. Die größte Differenz zeigt sich in Globo heute zwischen den Weilern Nordamerika und Afrika: Im reichen Weiler Nordamerika steht jedem Menschen das Zwanzigfache dessen zur Verfügung, was die Menschen im armen Weiler Afrika im Durchschnitt haben. Dabei ist auch innerhalb der Weiler die Verteilung ungleich: Unter den 5 Menschen in Nordamerika ist 1 Mann, dessen Einkommen das Zwei- bis Dreifache des nordamerikanischen Durchschnitts beträgt, während unter den 13 Menschen in Afrika 5 sind (4 davon wahrscheinlich Frauen), deren Einkommen nur ein Drittel des afrikanischen Durchschnitts ausmacht. Ein ähnliches Bild würde sich bei einem Vergleich zwischen den Weilern Europa und Afrika bieten.

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      Der Weiler Afrika ist dabei während des Anthropozän im Hinblick auf die Wohlstandsentwicklung am weitesten „abgehängt“ worden, doch auch der Weiler Asien hat zeitweise schwere Rückschläge erlitten: Betrug der Anteil Asiens am gesamten Dorfprodukt um 1820 noch rund drei Fünftel, sank er bis 1950 auf nur noch rund ein Fünftel und ist seither immerhin wieder auf rund zwei Fünftel gestiegen. Für die Erkenntnis, dass die Gründe für diese Entwicklungen auch (natürlich nicht nur) mit Charakter und Nachhaltigkeit des europäischen Kolonialismus zu tun haben, braucht es angesichts dieser Zahlen keine komplizierten quantitativen Untersuchungen.

      Eine selten erhobene und kaum je berechnete Kennzahl, die solche Unterschiede verdeutlichen könnte, ist der Lebensstandard. Hier soll – aus derselben Quelle wie die zuvor dargestellten Einkommensdaten – eine