Gisela Sachs

Die Kinder vom Schmetterlingshof


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die Geschichten alle schon kennen. Manchmal haben der Michel und ich Angst, dass der Opa auch vergessen könnte, dass es uns und den Schmetterlingshof gibt. So wie die Oma. In den Angstnächten schleiche ich über den Flur in Michels Zimmer und lege mich zu ihm ins Bett. Wir kuscheln uns dann ganz eng zusammen. Es ist gut, den Michel zu haben. Auch wenn er manchmal blöd zu mir ist.

      Wir haben uns beim Eis essen kennengelernt, erzählt der Opa. Die Anna saß auf einem Stein und lutschte die restlichen Tropfen Vanilleeis aus der Waffeltüte. Die Sonne hatte sich in ihren Haaren verfangen. Und Annas Zöpfe leuchteten wie flüssiges Gold. Ihre Augen waren blauer noch als der Himmel und ihre Bäckchen hatten die Farbe von reifen Kirschen. Du wirst einmal genauso aussehen wie deine Oma Ännchen, sagt der Opa plötzlich zu mir. Und er gibt mir einen dicken Kuss auf die Backe. Dann trinkt der Opa den kalt gewordenen Kaffee. Obwohl er keinen kalten Kaffee mag. Ich will einmal nicht so aussehen wie meine Oma. Ich will für immer gesund und schön sein. So schön wie meine Mama.

      Die Anna hatte die gute weiße Bluse an. Weil die Oma in der Tierarztpraxis im Nachbarort war. Dort wollte die Oma in den Sommerschulferien arbeiten. Zur Probe. Die Oma überlegte sich nämlich, ob sie einmal in einer Tierpraxis arbeiten wollte. Oder doch lieber den Beruf einer Schneiderin oder einer Floristin ergreifen sollte. Und zu Vorstellungsgesprächen musste man immer angemessen angezogen sein, sagt der Opa. Der Opa sagt oft so komische Wörter wie angemessen. Und der Papa auch. Das kommt davon, dass der Opa der Papa vom Papa ist. Aber ich glaube die Geschichte habe ich euch schon erzählt, Kinder, ruft der Opa plötzlich aus. Aber das macht nichts. Der Opa erzählt die Geschichte immer ganz spannend. Und immer ein bisschen anders.

      Die Oma hatte einen schwarzen Faltenrock an und den hat sie mit Vanilleeis vollgekleckert. Und die Oma versuchte den Fleck mit einem Papiertaschentuch raus zu rubbeln, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Und dann hast du die Oma gefragt, ob du ihr helfen kannst. So war das doch, Opa, gell. Und du bist dann mit der Oma...

      Und du bist eine alte Quatsch- und Zappelliese, Ännchen. Nie gibst du auch nur eine Sekunde Ruhe. Jetzt lass doch den Opa mal in aller Ruhe erzählen, Ännchen.

      Und du bist ein Blödmann, Michel. Immer meckerst du an mir herum. Jeden Tag. Du bist der blödeste Bruder der Welt, Michel.

      Zum Kuckuck und zum Geier aber auch. Ihr sollt euch nicht schon wieder streiten, Kinder.

      Zum Kuckuck und zum Geier zu sagen ist auch nicht gerade eine feine Art, Opa. Gell, Michel.

      Da hat das Ännchen ganz recht, Opa. Das ist schon fast geflucht. Das sagt die Mama auch.

      Aha, da seid ihr auf einmal wieder einer Meinung, ihr zwei Banausen, sagt der Opa. Dann kann ich ja endlich weitererzählen. Ich bin also wie ein Wilder in die Eisdiele gestürmt, sagt der Opa. Und ich habe schnurgerade die Herrentoilette angepeilt. Dort habe ich mein Stofftaschentuch unter den Wasserhahn gehalten und habe das nasse Taschentuch der wunderschönen Anna gebracht.

      Damit geht es besser, hast du zur Oma gesagt und die Oma ist tomatenrot im Gesicht geworden, aber sie hat das Taschentuch von dir angenommen. Dann hat sie wie verrückt an dem Faltenrock rumgerubbelt und war froh, dass der Fleck raus gegangen ist. Weil ihre Eltern doch so arg streng waren.

      Ganz genau so war es Ännchen, sagt der Opa. Die Oma hätte ganz schön Ärger bekommen, wenn sie mit einem schmutzigen Rock heimgekommen wäre. Der Faltenrock durfte nämlich nur bei besonderen Gelegenheiten aus dem Schrank genommen werden, ebenso die weiße Bluse.

      Die jüngeren Schwestern von der Oma sollten die Kleidungsstücke noch tragen. Deshalb sollte die Oma auch immer eine Schürze über den guten Sachen tragen, gell Opa. Aber an diesem Tag hatte die Oma die Schürze nicht umgebunden.

      Du sollst den Mund halten, Ännchen.

      Zum Kuckuck und zum Geier aber auch. Geht das Gezeter denn schon wieder los?

      Was ist ein Gezeter, Opa?

      Meine Güte, was habe ich doch für eine dumme Schwester.

      Ich bin nicht dumm.

      Bist du doch.

      Bin ich nicht!

      Der Opa winkt die Kellnerin an den Tisch und bestellt drei Tassen mit heißer Schokolade und einem Klacks Sahne obenauf, dazu je ein Stück Marmorkuchen. Obwohl wir doch schon ein Eis gegessen haben. Marmorkuchen ist der Lieblingskuchen vom Opa. Und von der Oma auch.

      Weil heute ein ganz besonderer Tag ist, sagt der Opa.

      Ein besonderer Tag? Was denn für einer, Opa?

      Kannst du den Opa nicht einmal ausreden lassen, Ännchen, schimpft der Michel. Und er schaut mich so böse an, als hätte ich etwas Schlimmes gemacht.

      Ich kann es nicht leiden, wenn der Michel mich so finster ansieht. Ich fange an zu weinen.

      Alte Heulsuse, sagt der Michel. Weicheiprinzessin. Kindergartenbaby.

      Zum Kuckuck und zum Geier aber auch müsst ihr euch denn schon wieder in die Wolle kriegen, Kinder, schimpft der Opa.

      Opa du sollst doch nicht...

      Ist schon gut, Michel. Ist schon gut, sagt der Opa! Dann will ich euch halt mal verraten, dass heute der Jahrestag vom ersten Kusstag ist.

      Vom ersten Kusstag? Wer hat denn da wen geküsst, Opa, fragt der Michel. Und warum ist das denn so wichtig, dass man da feiern muss?

      Der Opa natürlich die Oma, Michel, mache ich dem Michel klar. Wer denn sonst wen? Du verstehst auch nie was, Michel.

      Dann sei mal froh, dass du so gescheit bist, kleine Schwester, schimpft der Michel los. Und er gibt mir eine Kopfnuss.

      Zum Kuckuck und zum Geier aber auch, schimpft der Opa. Müsst ihr euch denn immer streiten? Kann es denn keinen einzigen Tag einmal friedlich zugehen mit euch? Und Kopfnüsse gibt es bei der Familie Schäfer schon gar nicht, Michel. Heute nicht, gestern nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht. Hast du das verstanden, Michel?

      Und du sollst nicht immer zum Kuckuck und zum Geier aber auch sagen, Opa. Was soll denn unser Ännchen von dir denken?

      Ach, schau mal her, der Michel. Wie besorgt er doch auf einmal um seine kleine Schwester ist, lacht der Opa auf. Aber die Kopfnuss wird ein Nachspiel haben. Fußball spielen mit mir fällt heute aus für dich, sagt der Opa ziemlich unfreundlich zum Michel. Und ob ich jetzt noch weiter erzählen werde, muss ich mir noch schwer überlegen. Der Opa stützt sein Gesicht in die Hände, macht einen Schmollmund und schließt die Augen. Hey, Opa, sage ich und zupfe den Opa am Hemdärmel. Sei doch nicht so schnell beleidigt. Und auch der Michel zupft den Opa am Hemdärmel, aber weiter oben und auf der anderen Seite. Sei doch nicht so schnell beleidigt, Opa, sagt auch der Michel zum Opa. Du bist ja eine richtig beleidigte Leberwurst. Eine beleidigte Leberwurst aber will der Opa nicht sein. Das wissen der Michel und ich ganz genau. Der Opa schlägt die Augen auf, sagt, dann will ich halt mal nicht so sein und erzählt weiter.

      Eure Oma und ich waren über ein Jahr lang miteinander befreundet, bevor ich ihr den ersten Kuss geben durfte, sagt der Opa. Und es hat nochmals über ein Jahr gedauert, bevor ich zum ersten Mal ihr Elternhaus betreten durfte.

      Warum musstest du denn so lange warten Opa, fragt der Michel.

      Das war damals ebenso, Michel. Da schloss man nicht so schnell Freundschaften, so wie das in der heutigen Zeit üblich ist. Und die Stimme vom Opa ist wieder ganz freundlich.

      Du bist über ein Jahr lang vor dem Haus von der Oma gestanden, Opa?

      Bei Tag und bei Nacht?

      Bei Regen und bei Schnee?

      Bei Sturm und bei ganz heißer Sonne?

      Ohne zu essen?

      Ohne zu trinken?

      Ohne zu schlafen?

      Und ohne Pipi und Kacka zu machen?

      Wie kann man bloß so dumm daher reden, Ännchen. Meinst du wirklich, dass der Opa über ein Jahr lang vor dem Haus herumgestanden und auf die Oma gewartet hat?

      Aber