Gisela Sachs

Ave Maria


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Schmerz lässt meinen Atem stocken und ich schaue ungläubig auf das viele Blut. Schaue zu, wie es von meinen Fingern tropft und lautlos in der weißen Badewannenvorlage versickert.

      Ich fühle Schmerz.

      Und ich spüre mich plötzlich wieder!

      Kommissar Meckle hat seine Zeitung aufgeschlagen auf meinem Sofa liegen lassen, bemerke ich. Warum mischt der Polizist sich in mein Leben ein? Die Seiten mit den Stellenanzeigen springen mich förmlich an: Eine Stelle als Kellner, als Büroaushilfskraft, Verkaufsfahrer bei bofrost, Pflegehelfer im städtischen Tierheim, Schichtführer für Reinigungsund Aufräumarbeiten, Quereinsteiger für den Außendienst, Wachpersonal, Bürokraft in einer Futtermittelund Sachtransportfirma. Warum nicht?

      Wo ist mein Papier? Die Umschläge?

      Mein Schreibzeug?

      Ich wühle wieder planlos in Schubladen und Schränke, finde nicht das, was ich suche, werfe das unnütze Zeug achtlos auf den Boden und lasse es dort liegen.

      Ich bediene mich an Mamas Schreibtisch, versuche meine sieben Sinne zusammenzuhalten und schreibe bis spät in die Nacht Bewerbungen.

      »Fein säuberlich!«

      »Das ist deine Visitenkarte, Davie.«

      »Ich weiß, Mama.«

      Die Kommode im Wohnzimmer. Immer wieder schweifen meine Blicke zu den Schubladen mit den Drogen, lassen meine Gedanken nicht los, setzen sich in meinem Kopf fest, sodass ich kaum klar denken kann. Ein zerknülltes Papier nach dem anderen landet als Müllberg auf dem Fußboden. Amy Winehouse röhrt aus dem CDPlayer.

      Ich mache Milch heiß, rühre drei Esslöffel Honig darunter, schreibe mit letzter Willenskraft und unter äußerster Anstrengung meine Bewerbungen nochmals. Meine Mama im Himmel soll zufrieden mit mir sein. Ich klebe grüne Briefmarken auf die braunen Umschläge. Marken der Hoffnung.

      Ich werde es schaffen, will doch ein normales Leben führen.

      Wie gehetzt renne ich zum nächsten Briefkasten. Er ist weit. Keuchend werfe ich die Umschläge ein.

      Was wird jetzt werden?

      Ich bin aufgelöst.

      Wieder zuhause, setze ich mich in meinen Schaukelstuhl und versuche mich ruhig zu schaukeln, schaukele hoch und runter. Immer wieder hoch und runter. Das hatte Mama mit mir immer so gemacht, wenn ich unruhig und zappelig war.

      Mein Blick verfängt sich in den Schubladen meiner Kommode. Kirschbaum.

      Von Oma. Wertvoll.

      Morgen kommt die Müllabfuhr.

      Ich schütte entschlossen den Restbestand der Drogen in einen Müllbeutel, trage ihn nach draußen, klettere auf die Bank neben dem städtischen Behälter und erreiche so die Öffnung des Eimers. Ich stampfe den Beutel mit den Füßen in die Tiefe des stinkenden Eimers.

      Ich werde es schaffen! Ich will es schaffen!

      Ich werde es schaffen! Ich werde es schaffen! Ich will es schaffen!

      Mama tanzt in ihrem weißen Totenhemd um mein Bett herum und lacht.

      »Fang mich, Davie!« Als ich nach ihr greifen will, wird sie durchsichtig, taucht am Fußende des Bettes wieder auf. »Fang mich doch, Davie.«

      Ich hüpfe aus dem Bett und renne Mama hinterher. Wir spielen Fangen durch das ganze Haus. Auf Mamas langem Gewand krabbeln unzählige weiße Würmer rauf und runter.

      »Du riechst nach süßem Blut Mama.«

      »Beiß nicht in mich hinein.«

      Höhlenartigen Augen verschießen leuchtende Blitze. Mama wirft mit beiden Händen weiße Lilienblüten nach mir, lacht fröhlich:

      »Komm, Davide, lass uns tanzen!«

      Ich lege Amy Winehouse ein, strecke meine Hände nach Mama aus. Mom wird wieder durchsichtig, bleibt diesmal aber verschwunden.

      »Mami?«

      Weiße Lilien.

      Überall weiße Lilienblütenköpfe. Flackernde Schatten an den Wänden. Weißer Rosenkranz.

      Mir ist kalt. So verdammt kalt.

      »Mamiiiiiiiiiiii.«

      Albträume. Schüttelfrost. Kotzen. Haut wie Pergamentpapier. Violettfarbene Ringe unter den Augen. Abgemagert bis auf die Knochen. Wahnvorstellungen.

      Albträume. Schüttelfrost. Kotzen. Wahn. Albträume. Schüttelfrost. Wahn.

      Albträume. Schüttelfrost. Albträume.

      Albträume. Ritzen.

      Und ich spüre mich mehr, als ich ertragen kann.

      »Gott, erhöre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. (Psalm 55)

      Gib mir die Kraft diese schwere Zeit zu überstehen.

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