verriet, dass er nicht zufällig hierherkam.
»Eure Erhabenheit!« Esmeraldo trat zurück und senkte den Kopf, während er in Gedanken hastig überschlug, ob sie an irgendeiner Stelle des Gesprächs doch zu nah an den Arbeitern gewesen waren. Doch in dem Gesicht des Patriarchen deutete nichts darauf hin, dass er zürnte. Ein junger Novize beeilte sich, ihm zu folgen, und blieb schließlich mit zwei Schritten Abstand hinter dem Kirchenoberhaupt stehen, den Blick auf die Hände gesenkt.
»Boron zum Gruß.« Ohne Eile drehte sich Brotos zu Amir Honak um. Sein Raubvogelgesicht formte ein höfliches Lächeln. »Welch unerwarteter Anblick zu dieser Stunde.«
»Der göttliche Rabe mit Euch«, erwiderte der Patriarch den Gruß knapp. Seine Mimik war unbewegt, als sein Blick kurz zu Esmeraldo glitt und dann gleich wieder zu Brotos zurückkehrte. »Das Gleiche mag ich auch sagen. Euer Neffe, wenn ich mich nicht irre?«
»Commandante Esmeraldo Paligan, Eure Erhabenheit. Ich wollte um eine Audienz ersuchen, um ihn Euch vorzustellen. Ihr seid mir nun zuvorgekommen.«
»Es steht Euch frei, es dennoch zu tun«, beschied Amir Honak knapp. »Sprecht deswegen mit meinem Sekretär. Doch nun muss ich Euch bitten, das familiäre Beisammensein zu beenden. Ich habe mit Euch einige Dinge zu besprechen.«
Brotos’ linke Braue wanderte ein Stück nach oben. »Ihr habt es gehört, mein Rat wird benötigt«, sagte er, und wenn Esmeraldo es nicht besser wüsste, hätte er angenommen, echtes Bedauern in seiner Stimme mitschwingen zu hören. »Es war mir eine Freude, mit Euch zu plaudern und alte Erinnerungen auszutauschen. Richtet Eurer Mutter meinen Gruß aus, wenn Ihr sie seht.« Er hob die Hand zu einer segnenden Geste. »Boron mit Euch, mein Sohn.«
»Der Götterfürst mit Euch, Hochwürden«, antwortete Esmeraldo steif, ehe er sich dem Patriarchen zuwandte und die Faust zum militärischen Gruß an die Brust führte. »Ehre dem Raben, Eure Erhabenheit.«
Amir Honak nickte stumm, doch Esmeraldo war, als blickten die klaren Augen einen Moment lang eindringlicher. Ein unangenehmes Schaudern griff nach seinem Nacken, als er sich umdrehte und dazu zwang, ohne Eile den Weg zurück zum Tempel einzuschlagen. Die Stimmen der Arbeiter waren nun sehr nah, aber er beachtete sie nicht. Vielleicht war es nur ein Zufall, der Amir Honak gerade in diesem Moment in die Tempelgärten geführt hatte, doch Esmeraldo war mit den Jahren zu vorsichtig geworden, um auf Zufälle zu vertrauen. Brotos’ Vorhaben war hochtrabend, aber nicht unmöglich, und es bot Möglichkeiten, die alles überstiegen, was er sich bei seiner Rückkehr aus Sylla erhofft hatte. Dennoch musste er vorsichtig sein und abwägen, ehe er dem alten Geweihten das Versprechen gab, das Brotos ihm abgerungen hätte, wäre der Patriarch nicht erschienen. Vielleicht war es ein Fingerzeig Borons, nicht voreilig Entscheidungen zu fällen, sondern in Ruhe abzuwägen. Denn eines wusste Esmeraldo sicher: Es war gleichgültig, wer im Hintergrund die Fäden zog, er würde keine Mirhamionette sein.
Said
Von draußen klangen die geschäftigen Geräusche des Hafens. Zwielicht drang durch die Ritzen zwischen den Brettern des Verschlags und beließ die Ecken in gnädigem Dunkel. Der Gestank nach altem Schweiß und menschlichen Ausscheidungen hing noch in der Luft, und auf dem Boden lag eine umgeworfene Schale mit den eingetrockneten Resten eines Reisbreis, auf dem sich eine dicke Traube Fliegen niedergelassen hatte.
Said ging in die Knie und hob das Stück raue Schnur auf, mit der er die Beine des Beschützers gefesselt hatte. Sie war glatt durchtrennt und nicht durchgerieben, wie er im ersten Moment befürchtet hatte. Rurescha musste ihn fortgebracht haben, aus welchem Grund auch immer, und das offensichtlich schon vor mehr als einem Tag.
Mühsam erhob er sich und tastete nach der Wand, als ihn erneut Schwindel überkam. Der Paligan hatte recht gehabt, es war nicht gut gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen. Der Sturm hatte Sturzbäche aus Wasser, Schlamm und Unrat durch die Gassen getrieben, sodass er nicht weit gekommen war, sondern die Zeit bis zum Morgen zusammengekauert in einer Hausecke verbracht hatte. Jede Faser seines Körpers schmerzte, und er hasste die Schwäche, die ihn ohne Grund straucheln ließ. Aber dass sein Unterpfand fort war, zeigte, dass er viel zu lange tatenlos geblieben war. Er hatte keine Ahnung, was Rurescha bewegt hatte, den Mann von hier fortzuschaffen. Vielleicht war er auch nicht vorsichtig genug gewesen, und die Karinor oder einer der Verschwörer aus den Katakomben hatte seine Spur aufgenommen. Dann war dieses Druckmittel verloren und dieser Unterschlupf nicht mehr sicher.
Said warf einen raschen Blick über die Schulter, aber das vertraute Kribbeln, das sich einstellte, wenn Gefahr drohte, blieb aus. Dennoch sollte er sich hier nicht länger als notwendig aufhalten.
Said wartete einen Moment, um sicher zu gehen, dass nicht gerade jemand zufällig an dem Verschlag vorbeikam. Dann stahl er sich hinaus und tauchte erneut ein in das bunte Treiben der Gassen. Es war nicht schwer, in der Menge zu verschwinden. Al’Anfa hatte über die Jahrhunderte Gestrandeten aus aller Herren Länder eine Zuflucht geboten, sodass sich die Völker vermischt hatten und es kaum noch etwas gab, wonach sich die Leute umgedreht hätten, weil es seltsam und fremd gewesen wäre. Glutäugige Tulamiden gab es ebenso wie Nachfahren güldenländischer Eroberer, Waldmenschen und Mischlinge jeder Art, selbst dunkelhäutige Hünen, deren Ahnen noch Thorwalerblut in sich getragen haben mochten, und Utulus mit hellen Augen, die schon vor Generationen den Sklavenstatus abgestreift hatten.
Die Kleidung, die der Paligan ihm gegeben hatte, war sauber, aber einfach und zweckmäßig, sodass niemand Said Beachtung schenkte, während er sich durch die Gassen treiben ließ und einen der schmalen Aufgänge emporstieg, die in die Abbruchkanten des Berges geschlagen waren, um die Ebenen der Stadt miteinander zu verbinden.
Der Schlund lag nicht unmittelbar am Hafen wie die anderen Elendsviertel, sondern weiter oben am Hang. Die rußgeschwärzten Ruinen verrieten, dass das Quartier einst wohlhabend gewesen sein musste, ein ähnlicher Ort wie die Grafenstadt, wo auch Amato Paligan seine Villa unterhielt. Vor einigen Jahrzehnten hatte hier ein furchtbarer Feuersturm gewütet, der das ganze Viertel vernichtet und von dem alten Glanz nur trostlose, verkohlte Mauern übriggelassen hatte, über denen noch immer ein leichter Brandgeruch lag. Anders als in den Brabaker Baracken gab es hier keine Mietskasernen. Wer hier lebte, hatte sich aus altem Mauerwerk, rohem Holz und Palmwedeln einen Unterschlupf gebaut oder hauste in einem der zerfallenen Hinterhöfe, in denen wild sprießende Blumen und Schlingpflanzen die Ruinen mehr und mehr zurückeroberten. Dazwischen fanden sich immer wieder fast intakte Häuser oder solche, die man allen Widrigkeiten zum Trotz wieder aufgebaut hatte, auch wenn der Schlund kein Ort mehr war, der dazu einlud, länger zu verweilen. Während die Baracken am Hafen all jene aufnahmen, die das Meer in die Stadt spülte, so hausten hier diejenigen, die geblieben waren und ihr Auskommen im Schatten der Rabenstadt gefunden hatten – Diebesbanden und Schläger, die ihre Fäuste an jeden verkauften, der nur genug zahlte, Hehler, Schutzgelderpresser und ehemalige Söldner, die verkrüppelt auf den Stufen ehemals herrschaftlicher Villen hockten und Vergessen im Rauschkraut suchten.
Im Gegensatz zu den anderen Stadtteilen lagen die Gassen unter der Hitze fast ausgestorben da. Das Surren von Fliegen und Moskitos hing in der flirrenden Luft. Stimmen drangen aus einer Taverne im Schatten schimmliger Palmwedel, und ein paar Häuser weiter spielte jemand auf einer Handtrommel den Takt zum eintönigen Gesang einer alten Frau.
Als Said in den Schatten des Durchgangs trat, der zum Hinterhof führte, wo Rurescha und er zuletzt untergekommen waren, fing sein Blick einen Herzschlag lang den eines alten Mannes, der schon beim letzten Mal hier gesessen hatte. Seine schwärenden Beinstümpfe hatte er vor sich auf einer feuchten Strohmatte ausgestreckt, ohne sich um die Fliegen zu scheren, die wie ein wimmelndes Tuch aus schwarzen Leibern über die zerstörten Gliedmaßen krochen. Sein Haar war schlohweiß, und sein Gesicht war von unzähligen Falten und Grübchen durchzogen, dass er Said fast an die alte Geschichtenerzählerin erinnerte, die in Meister Darjins Haus gelebt hatte. Die Augen unter den buschigen Brauen hingegen wirkten klar und kalt. Unverhohlen musterte er Said, ohne ein Wort zu sagen, und folgte ihm mit seinem Blick, sodass er sich zwingen musste, sich nicht umzudrehen.
Ein ungutes Gefühl legte sich um Saids Nacken, während er die wackeligen Stufen emporstieg, die zu der Kammer hinaufführten. Etwas stimmte nicht, aber es war zu spät, um einen anderen Weg zu wählen. Wenn ihn jemand