oder ‚Homeward Bound‘ von Simon und Garfunkel singen. Sie sind alle Juden. Dadurch verschwand mein Antisemitismus, denn viele der größten poetischen Köpfe sind Juden: Bob Dylan, Paul Simon, John Lennon – wenn es diese Leute nicht gäbe, wäre die Welt ein weitaus schlimmerer Ort.“
Ich teile ihm nur ungern mit, dass John Lennon kein Jude war.
———
Seine Pläne, sich eine neue Bleibe zu suchen, wurden nicht verwirklicht. Kurz nach unserem zivilisierten Austausch im Krankenhaus von Vancouver nahm Ralph sein Leben in Downtown Eastside wieder auf. Seit die Drogen wieder Teil seines Lebens geworden waren, war er wieder zu der unberechenbaren, verbitterten Persönlichkeit zurückgekehrt, die er nur sporadisch ablegen konnte. Vor nicht allzu langer Zeit kam er in meine Praxis, um weitere Gedichte vorzutragen.
„Hier ist eins, das Ihnen gefallen wird“, sagt er und beginnt mit seinem schnellen, mechanischen Dröhnen.
Mir gefällt die erbärmliche Ehrlichkeit von Ralphs Versen. Die Binnenreime, die er in jedes Verspaar einfügt, verstärken die atmosphärisch dichte und erstickende Logik der Welt des Vortragenden. Alles passt zusammen: die vergebliche Suche nach Kameradschaft, die sexuelle Frustration, Entfremdung, Flucht in Drogen, Trauer, das Pathos und der Zynismus.
„Schreiben Sie immer noch?“, frage ich.
„Nein.“ Er wischt mit einer resignierten Handbewegung über sein Gesicht. „Ich schreibe schon lange nicht mehr. Seit Jahren, seit Jahren. Ich habe alles geschrieben, was ich schreiben wollte. Alle meine Gedanken und Gefühle habe ich in Poesie ausgedrückt.“
Ich schaue auf meine Uhr und bin mir der Patientenmenge vor meinem Zimmer bewusst. „Warten Sie“, sagt Ralph schnell, „ich habe noch ein Gedicht für Sie. Es heißt …“ Er sucht in seinen Gedanken nach dem Titel und kratzt sich dabei an seinem neuerdings kahlen Kopf. Seine Fingernägel sind mit dunklem, violettblauem Nagellack lackiert. Unter dem Saum seines schmutzigen T-Shirts führen seine Unterarmmuskeln einen aufgeregten, schlangenartigen Tanz auf.
„Ah ja, es heißt ‚Wintersonnenwende‘.“ Wieder rezitiert Ralph in seinem unnachahmlichen, schnellen, affektierten Gekrächze. Er fixiert mich mit den Augen, als ob er darauf bestehen wollte, gehört zu werden. Das Gedicht endet mit einem Adler, der mitten im Flug tot vom Himmel fällt.
Zwei Tage später kommt er wieder, mit unrealistischen Forderungen nach Medikamenten und nach Unterstützung für Lebensmittel und Unterkunft, die ich nicht befriedigen kann. Ralphs Wut ergießt sich mit seinem ungebremsten teutonischen Gift. „Und später gibt es noch etwas Kunst für Sie“, schreit er und stampft wütend aus meinem Büro ins Wartezimmer, wo seine Mitsüchtigen irritiert und missbilligend den Kopf schütteln. „Es ist bestimmt manchmal nicht leicht für Sie, hier zu arbeiten“, sagt mein nächster Patient, der bereits durch die Tür kommt.
Als ich am Nachmittag das Büro verlasse, wäscht einer der Portland Hausmeister mit heißem Seifenwasser und einem Scheuerschwamm ein großes, grob gezeichnetes, schwarzes Hakenkreuz von der Wand, direkt neben dem Ausgang im ersten Stock.
* „Arbeit macht frei“ stand auf Schildern an den Toren der nationalsozialistischen Konzentrationslager, einschließlich Auschwitz.
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