wurden und der Sozialpsychologie einen Boom bescherten.
Freuds Einfluss kam insbesondere in der Entwicklungspsychologie zum Tragen. Das Interesse verlagerte sich von der kindlichen Entwicklung auf die gesamte Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins hohe Alter. Psychologen ergründeten die Methoden des sozialen, kulturellen und moralischen Lernens und erforschten, wie wir Bindung aufbauen. Die Entwicklungspsychologie beeinflusste die Pädagogik und – wenn auch nicht ganz so offensichtlich – das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen kindlicher Entwicklung und späteren Einstellungen zu Rasse und Geschlecht.
Fast jede psychologische Schule hat sich auf irgendeine Weise mit der Einzigartigkeit des Individuums beschäftigt, doch erst Ende des 20. Jahrhunderts entstand daraus eine eigenständige Disziplin: die differenzielle Psychologie. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, wie sie sich messen lässt, aus welchen Bestandteilen sich Intelligenz zusammensetzt, welche Maßstäbe für Normalität und Abnormalität gelten und in welchem Maß individuelle Unterschiede auf Umwelteinflüsse und/oder das genetische Erbe zurückzuführen sind.
»Der Schreibtischstuhl, dessen Lehne dem Schreibenden […] den Rücken stärkte, wird abgelöst durch die ›Couch des Psychiaters‹ …«
Marshall McLuhan
Eine einflussreiche Wissenschaft
Die moderne Psychologie deckt alle Facetten des menschlichen Innenlebens und Verhaltens ab. Ihr Anwendungsbereich überschneidet sich inzwischen mit dem vieler anderer Disziplinen, darunter Medizin, Physiologie, Neurowissenschaften, Informatik, Pädagogik, Soziologie, Anthropologie, Politik, Wirtschaftswissenschaften und Jura.
Noch immer beeinflusst sie andere Wissenschaften und wird von ihnen beeinflusst, vor allem auf den Gebieten der Neurowissenschaften und der Genetik. Francis Galtons These, dass die biologische Veranlagung die individuelle Entwicklung stärker formt als die Erziehung, wird bis heute diskutiert. So versucht die Evolutionspsychologie psychische Merkmale als ererbte biologische Phänomene zu erklären, die den Gesetzen der Genetik und der natürlichen Auslese unterliegen.
Die Psychologie ist ein weites Feld, und ihre Erkenntnisse betreffen jeden Einzelnen. Auf die eine oder andere Weise begründet sie viele Entscheidungen, die von Regierungen und Unternehmen sowie im Bereich Werbung und Massenmedien getroffen werden. Sie wirkt auf Gruppen und auf Individuen ein und trägt zur öffentlichen Diskussion über Gesellschaftsstrukturen genauso viel bei wie zur Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen.
»Das Ziel der Psychologie besteht darin, uns von den Dingen, die wir am besten kennen, eine ganz neue Vorstellung zu geben.«
Paul Valéry
Psychologische Theorien sind Teil unserer Alltagskultur geworden. Das geht sogar so weit, dass viele Erkenntnisse über das menschliche Verhalten und über psychische Prozesse inzwischen einfach als Produkte des »gesunden Menschenverstands« angesehen werden. Doch während manche Thesen unsere instinktiven Annahmen bestätigen, sorgen andere für Kopfzerbrechen. Psychologen, deren Forschungsergebnisse feststehende Überzeugungen erschütterten, schockierten die Öffentlichkeit häufig und brachten sie gegen sich auf.
Selbst während ihrer nur kurzen Geschichte hat die Psychologie unsere Denkweisen stark verändert und viel dazu beigetragen, dass wir uns selbst, andere Menschen und die Welt, in der wir leben, besser verstehen. Sie hat tief verwurzelte Überzeugungen infrage gestellt, unangenehme Wahrheiten ans Licht gebracht und auf komplexe Fragen spektakuläre Antworten gegeben. Dass sie als Studienfach immer populärer wird, zeugt nicht nur von ihrer großen Bedeutung für die moderne Welt, sondern auch von der Inspiration, die mit der Erforschung der geheimnisvollen menschlichen Psyche in all ihren Facetten noch immer einhergeht.
PHILOSOPHISCHE WURZELN
DIE ENTSTEHUNG DER PSYCHOLOGIE
1649
René Descartes publiziert Les Passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele) und behauptet, Körper und Seele seien zwei verschiedene Substanzen.
1816
Johann Friedrich Herbart beschreibt in seinem Lehrbuch zur Psychologie eine dynamische Seele mit einem Bewusstsein und einem Unbewussten.
1859
Charles Darwin veröffentlicht On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) und propagiert, dass all unsere Eigenschaften vererbt werden.
1869
Francis Galton schreibt in Hereditary Genius (Genie und Vererbung), dass die Vererbung wichtiger sei als die Erziehung.
1812
José Custodio de Faria (Abt Faria) erforscht in seinem Buch De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme die Hypnose.
1849
Søren Kierkegaards Buch Die Krankheit zum Tode markiert den Beginn der Existenzphilosophie.
1861
Der Neurochirurg Pierre Paul Broca entdeckt, dass die rechte und die linke Gehirnhälfte unterschiedliche Funktionen haben.
1872
Jean-Martin Charcot publiziert seine Leçons sur les maladies du système nerveux (Klinischen Vorträge über Krankheiten des Nervensystems).
1874
Carl Wernicke beweist, dass die Schädigung eines bestimmten Gehirnareals den Verlust bestimmter Fähigkeiten nach sich zieht.
1883
Emil Kraepelin veröffentlicht das Compendium der Psychiatrie.
1887
Granville Stanley Hall bringt die erste Nummer des American Journal of Psychology heraus.
1890
William James, der »Vater der Psychologie«, publiziert das Werk Principles of Psychology (Psychologie).
1879
Wilhelm Wundt gründet in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie.
1885
Hermann Ebbinghaus schildert in seinem Buch Über das Gedächtnis seine Versuche mit dem Erlernen sinnloser Silben.
1889
Pierre Janet postuliert, dass Hysterie mit Dissoziation und Persönlichkeitsspaltung einhergeht.
1895
Alfred Binet eröffnet das erste Labor für psychologische Diagnostik.
Viele Fragen der modernen Psychologie beschäftigten lange vor der Entstehung dieser Wissenschaft die Philosophen. Schon im antiken Griechenland versuchten sie Klarheit darüber zu gewinnen, wie die Welt um uns herum beschaffen ist, wie wir denken und uns verhalten. Seither ringen wir mit Dingen wie Bewusstsein und Selbst, Seele, Geist und Körper, Wissen und Wahrnehmung und mit