uns eins aus.“
„Das hast du sehr gut gesagt“, lobte der Profos. „Ausleihen – ein feines Wort. Schließlich können wir die Indianer ja nicht mitten in der Nacht wecken und sie fragen. Sie haben bestimmt einen sehr anstrengenden Tag hinter sich.“
Die Stimme des Kutschers klang ernst, als er etwas sagte.
„Ich halte das nicht für richtig, Männer, daß wir hier so sang- und klanglos verschwinden. Ich sehe auch keineswegs unser Leben bedroht. Wenn wir fliehen, finden sie uns wieder. Unser Schiffchen liegt ja noch immer auf der Sandbank fest, und das kriegen wir nicht in einer Stunde vom Schlick herunter.“
„Muß ja auch nicht sein“, erwiderte Carberry. „Aber an Bord haben wir Waffen, und damit können wir den Burschen kräftig einheizen, wenn sie antanzen. Diesmal wird ja wohl keiner an der Rumbuddel hängen und dabei auch noch pennen.“
„Gewalt ist nicht unbedingt ein Argument. Ich halte diese Leutchen für friedlich. Wir müssen uns nur mit ihnen verständigen und ihnen verklaren, daß wir auf ihrer Seite stehen und gegen die Spanier kämpfen. Die Arawaks werden uns weder fressen noch umbringen. Wir müssen nur eine gemeinsame Basis finden.“
„Soso“, sagte Carberry höhnisch. „Friedliche Leutchen, was, wie? Halsabschneider und Kesselkocher sind das. Wenn die Kerle so friedliche Leutchen wären, wie du sagst, dann hätten sie uns in Ruhe gelassen und uns nicht nachts überfallen und verschleppt. Oder zeugt das etwa von friedlichen Leutchen? Wenn ich ein friedfertiger Mensch bin, dann bedrohe ich andere nicht und überfalle sie auch nicht. Ich tue das schon gar nicht aus dem Hinterhalt. Wenn du erst zwischen Mohrrüben und Sellerie und Petersilie im Kessel kochst, in dem du hockst, dann kannst du meinetwegen mit den Kerlen über Friedfertigkeit salbadern, bis sie dir die Haut in Streifen von deinem Kutscherarsch ziehen.“
Leises Lachen erklang von allen Seiten.
„Ed hat recht“, sagte Old O’Flynn, „auch wenn er seine dämliche Bemerkung mit der Rumbuddel und dem Pennen nicht lassen konnte. Aber ich bleibe hier auch nicht sitzen und warte, bis ich in den Kessel gesteckt werde.“
„Und wie denkt ihr darüber?“ fragte der Kutscher.
„Ich denke genauso“, sagte Martin Correa. „Wenn sie uns überfallen und verschleppt haben, dann haben sie auch etwas mit uns vor. Ich bin aber nicht scharf darauf, es unbedingt in Erfahrung zu bringen.“
Die Zwillinge stimmten unisono für Flucht.
Auch Sven Nyberg und Nils Larsen waren dafür, so schnell wie möglich zu verschwinden.
„Allerdings muß das völlig lautlos geschehen“, meinte der dunkelblonde Sven. „Der Hund darf nicht knurren, und der Papagei muß seinen Schnabel halten. Möglicherweise haben die Indianer auch nachts eine Wache aufgestellt. Sie sind uns in dieser Gegend weit überlegen, weil sie das Gelände und seine Tücken ganz genau kennen. Trotzdem sollten wir es wagen.“
„Plymmie wird nicht knurren“, versicherte Philip. „Aber für Sir John kann ich nicht garantieren.“
„Aber ich“, behauptete Carberry. „Sir John spürt ganz genau, wann er den Schnabel halten muß.“
Damit war der Kutscher restlos überstimmt.
„Es wird sich herausstellen, daß diese Leutchen harmlos sind und wir ihnen unrecht tun“, sagte er.
Jetzt war der Profos fast empört.
„Wer tut hier wem ein Unrecht an“, begann er zu motzen. „Du hast vielleicht eine Einstellung! Es ist doch wohl unser gutes Recht, abzuhauen, wenn man uns überfallen und eingesperrt hat. Willst du dich bei den Fleischkochern vielleicht noch bedanken, daß sie uns nicht gleich die Hälse durchgeschnitten oder in die Kessel gesteckt haben? Vielleicht hatten sie gerade keinen Hunger. Aber wenn du nicht willst, kannst du ja hierbleiben. Wenn die erfahren, daß du Koch bist, mußt du dich gleich selber schmoren und abschmecken.“
Old O’Flynn hockte auf dem Boden. Den Geräuschen nach zu urteilen, schnallte er sein Holzbein ab. Dann fummelte er in dem Hohlraum herum, aber das. Messer steckte so tief drin, daß er es nicht erreichte. Schließlich schüttelte er das Ding heraus. Dann begann die umgekehrte Prozedur. Als er das Holzbein wieder zurechtgefummelt hatte, grapschte er nach dem Messer und gab es Jung Hasard.
„So eine Geheimwaffe ist was Feines“, lobte er, „das Messerchen hat mir schon oft in brenzligen Situationen geholfen.“
Der Profos stand auf und ging zu den Zwillingen hinüber.
„Steig auf mein Kreuz“, sagte er zu Hasard junior, „dann reichst du oben an das Dach heran und kannst lossäbeln.“
Als Jung Hasard auf das Riesenkreuz des Profos gestiegen war, sagte er grinsend: „Da steht man wie auf dem Achterdeck einer Kriegsgaleone.“
Er griff nach oben und begann, mit dem Messer ein Loch in das blattgedeckte Dach zu schneiden. Es ging ziemlich rasch, und bald hatte er so viel herausgeschnitten, daß er hindurchsteigen konnte.
Carberry ließ ihn jetzt auf seine breiten Pranken steigen, nahm das Messer in Empfang und stemmte den Bengel mühelos hoch. Das geschah so spielerisch leicht, als würde er sich recken.
„Schön leise jetzt“, murmelte er. „Wie sieht es draußen aus?“
„Dunkel“, war die lakonische Antwort. „Man sieht kaum die Hand vor Augen.“
Als Hasard durch das Loch verschwunden war, raschelte es nur ganz leise. Aber derartige Geräusche fielen überhaupt nicht auf. Im nahen Dschungel rief und krächzte es, und viele andere Geräusche waren ständig zu hören.
„He, gib mir das Messer wieder“, sagte O’Flynn, „das ist bei mir besser aufgehoben als bei dir. Später fummle ich das Ding wieder in den Hohlraum zurück.“
Sie sahen durch das Loch zum Himmel hinauf. Da waren nur langgestreckte Wolkenbänke zu sehen. Sie zogen ziemlich schnell dahin, doch der leichte Wind brachte keine Abkühlung. Heiß und feucht war es in dem Raum, und alle Augenblicke wischten sie sich den Schweiß von den Gesichtern.
Ein paar Augenblicke vergingen. Dann wurde draußen der hölzerne Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Jung Hasard war nur als dunkler Umriß zu erkennen. Er war von der Außenwand des Daches nach unten auf die Plattform gestiegen und um die ganze Hütte herumgeschlichen.
Einer nach dem anderen trat hinaus und sah sich um. Mit der Orientierung war es allerdings schlecht bestellt. Wie hingeduckte Schemen standen die anderen Pfahlbauten mitten im Wasser. Keine hatte eine direkte Verbindung zum Land. Die Umgebung wirkte wie ein verlassenes Geisterdorf.
„Wird nicht leicht sein, von hier zu türmen“, raunte Carberry. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es in unmittelbarer Umgebung aussieht. Oder hat einer von euch heute nacht etwas erkennen können?“
Das wurde allgemein verneint, denn als man sie hergebracht hatte, war es schon finster gewesen.
Der Profos zuckte heftig zusammen, als dicht vor seinem Gesicht Flügel schlugen. Abwehrend hob er die Hände hoch, dann erkannte er undeutlich, daß es Sir John war, der offenbar die Stimme seines Herrn und Meisters vernommen hatte und nun herangeflattert war. Er ließ sich auf Carberrys Schulter nieder.
Seltsamerweise sagte er kein Wort. Er hockte ganz still da wie ein pechschwarzer Rabe. Auch die Wolfshündin gab keinen Ton von sich, als wüßten beide, was auf dem Spiel stand.
In den anderen Pfahlbauten war alles ruhig. Wenn da wirklich ein Indianer auf nächtlichem Wachtposten war, dann hätten sie ihn ohnehin nicht gesehen. Sie rechneten auch kaum mit einem Ausbruch der Gefangenen, die sich hier nicht auskannten und vermutlich nicht das Wagnis einer nächtlichen Flucht eingehen würden.
Der einzige, dem mal wieder alles nicht geheuer war, war Old O’Flynn, der sich unbehaglich nach allen Seiten umsah. Er dachte wieder daran, was der Kutscher am gestrigen Tag über die Insel gesagt hatte.
Chickcharnies, dachte er. Hier lungerten irgendwo in der Finsternis