die kleinen Kinder hatten nach ihrer Befreiung keinerlei Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Sie kannten sie nicht. Tische dienten ihnen als Sitzgelegenheiten, Stühle als Wurfgeschosse, Essbestecke als Musikinstrumente. Sie wussten nicht, wie sie sich waschen sollten. Spiele waren ihnen fremd. Einige konnten gar nicht richtig gehen, bewegten sich nur im Gleichschritt fort, so wie sie es von den Lagerappellen gewohnt waren. Manche konnten sich nicht einmal an Mutter und Vater erinnern. Die Kinder waren auffallend reizbar. Ihre Stimmungen schwankten stark. Gegenüber ihrer neuen Umgebung verhielten sie sich lange misstrauisch. Wenn sie jemand verließ, setzten einige jüngere Kinder das mit dem Tod gleich – eine Erfahrung, die sie im Lager täglich hatten machen müssen.
Die Lebensfreude und Lebenslust neu oder wieder zu gewinnen, schien schwierig bis unmöglich. Alles konnte ständig ans Lager erinnern: Beim Ausziehen wurde automatisch die Kleidung nach Läusen abgesucht. Der Anblick von Uniformen löste Angst aus. Wer nicht genau hinsah oder wem es unmöglich war, in Richtung eines Uniformierten zu schauen, meinte immer, einen SS-Mann vor sich zu haben. Ein Gang durch ein Metalltor, das an die Tore der einzelnen Lagerabschnitte in Auschwitz-Birkenau erinnerte, ließ Panik entstehen. Der Klang einer unbekannten Sprache erinnerte an das Lager: Vielleicht kann ich den Befehl nicht verstehen und deshalb nicht ausführen, was den Tod bedeutet. Beim Haareschneiden kamen die Erinnerungen an die kahlgeschorenen Köpfe im Lager zurück. Metallgeschirr zu benutzen war unmöglich geworden – ebenso wie in langen Schlangen zu stehen. Zum Arzt gehen zu müssen löste Panikreaktionen bei den Kindern und Jugendlichen aus, die selber für medizinische Experimente im Lager missbraucht worden waren. Beim Reisen mit der Eisenbahn hatte man sofort die Deportationszüge vor sich.
Die Mädchen und Jungen lebten längere Zeit in Furcht, dass ihnen etwas entrissen wird: vor allem Essen und Kleidungsstücke. Essen zu verstecken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie verteidigten es, als ginge es um ihr Leben. Denn im Lager hatte jeder noch so kleine Besitz einen unmessbaren Wert gehabt. Jeder kleine Kanten Brot hatte für ein, zwei oder mehr Tage das Weiterleben ermöglicht. Auch verdorbenes Essen durfte nicht weggeworfen werden. Entsprechende Forderungen von Erwachsenen, die nicht im Lager gewesen waren, wurden mit ungläubigen Blicken und entsprechenden Gedanken quittiert: »Ihr habt keine Ahnung vom wirklichen Leben!« Manche Kinder und auch Jugendliche vermieden zunächst jede Arbeit. Sie mussten mit ihren Kräften haushalten. Im Lager hatten sie gelernt: »Nur bei guter Gesundheit kann ich überleben.« Außerdem sagten sie sich: »Wir haben schon genug für die Deutschen gearbeitet.« Sich an die Regeln dieser Welt zu gewöhnen fiel schwer. Im Lager hatten sich alle geduzt. In der Freiheit war das anders. Offenbar waren äußere Höflichkeitsformen manches Mal wichtiger als wirkliche Anteilnahme und Herzlichkeit. Dabei genügte es doch, Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben und zur Schule gehen zu können.
Viele Kinder hatten das Vertrauen in und zu den Menschen verloren. Und da war die Scham, von den schlimmen Erlebnissen mitunter nicht wirklich erzählen zu können. Andere, die keine Lagererfahrung hatten, hielten sie sowieso schon für »merkwürdig« und würden sie für noch »komischer« halten, wenn sie darüber berichteten. Wirklich verstanden fühlten sich die Kinder insbesondere von Menschen, die auch in Auschwitz oder anderen Lagern gewesen waren. Deshalb knüpften sie vor allem untereinander Kontakte. Ohne viele Worte verstanden sie sich oft sofort. Vor allem in den Nächten wurde Auschwitz wieder zur Realität: sich erinnern müssen, wie der Hunger den Magen umdreht. Sich erinnern müssen an die Kälte, die das Knochenmark durchdringt. Sich erinnern müssen an den Gestank von verbranntem Fleisch. Sich erinnern müssen an die Selektionen durch die SS, die einem Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Großmutter und Großvater, Tanten und Onkel, Freundin und Freund nehmen. Angst davor haben, dass die eigene Nummer aufgerufen wird. In solchen Augenblicken spüren sie erneut den in Auschwitz allgegenwärtigen, jeden Augenblick drohenden Tod.
Diese Kinder wurden am 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau befreit.
Gedenksteine im ehemaligen Lager.
Als die Verfolgungen der in diesem Buch zu uns sprechenden Kinder von Auschwitz begannen, waren sie Säuglinge beziehungsweise Kinder im Alter von ein bis 13 Jahren. Als sie Sklavenarbeit leisten mussten oder zum ersten Mal in ein Zwangs-Ghetto beziehungsweise Lager eingesperrt wurden, waren sie alle im Kindesalter. Als sie in das Vernichtungslager Auschwitz oder in eines der Außenlager transportiert wurden, waren drei im Jugendalter, alle anderen 15 Jahre und jünger. Neun dieser Kinder wurden 1943, 1944 und 1945 in Auschwitz-Birkenau geboren.
Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 nach Auschwitz deportiert. Darunter waren mindestens 1,1 Millionen Juden. Sie kamen unter anderem aus Ungarn, Polen, Frankreich, aus den Niederlanden, aus Griechenland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Belarus, der Ukraine, Russland, Litauen, Lettland, Italien, Norwegen und Luxemburg.2
Das Lager Auschwitz bestand vor allem aus drei Hauptteilen: Auschwitz I, auch »Stammlager« genannt, Auschwitz-Birkenau, zweiter und größter Teil, und aus Auschwitz III (Monowitz), wo die IG Farbenindustrie AG (Hauptsitz Frankfurt am Main) unter anderem durch als Sklavenarbeiter eingesetzte Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz ein Werk zur Herstellung von synthetischem Gummi (»Buna«) und Treibstoffen errichtete. Hinzu kamen mehr als vierzig Außenlager unterschiedlicher Größe wie Blechhammer, Kattowitz oder Rajsko.
Auschwitz-Birkenau war maßgeblich der zentrale Ort, an dem die Vernichtung der europäischen Juden stattfand. Mindestens eine Million jüdische Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ließen Deutsche verhungern, wurden von ihnen mit Giftspritzen direkt ins Herz getötet, durch pseudomedizinische Verbrechen ermordet, wurden erschossen, totgeschlagen oder vergast.3
Zwischen 70.000 bis 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000 bis 15.000 Entrechtete vieler Sprachen wurden in Auschwitz ermordet.4
Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter bis einschließlich 17 Jahren wurden nach Auschwitz verschleppt. Allein 216.000 waren Juden, 11.000 Sinti und Roma, mindestens 3.000 waren Polen, mehr als 1.000 Belarussen, Russen, Ukrainer sowie Kinder und Jugendliche anderer Nationen.5
Am 27. Januar 1945 konnten in Auschwitz lediglich 750 Kinder und Jugendliche im Alter von unter 18 Jahren befreit werden. 521 waren 14 Jahre und jünger,6 darunter ungefähr sechzig Neugeborene, von denen mehrere kurze Zeit später an den Folgen von Auschwitz starben.7
Jürgen Rolf Loewenstein am Tag seiner Einschulung in den 1930er Jahren. »Ich war ein echter Berliner Junge.«
»Uns war sehr bange«
ROBERT JOSCHUA BÜCHLER kam am 1. Januar 1929 im westslowakischen Topol’čany zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt hatten in der 110 Kilometer von Bratislava entfernten Stadt etwa 12.000 Menschen ihr Zuhause. Ungefähr jeder fünfte Einwohner war Jude. »Die Vorfahren meines Vaters lebten seit ungefähr 200 Jahren in der Stadt. Meine Mutter kam aus dem dreißig Kilometer entfernten kleinen Dorf Oslany. Die Großmutter hatte Verkaufsstände auf dem Marktplatz in Topol’čany und auf den Plätzen der umliegenden Ortschaften. Das war ein richtiger Familienbetrieb. Von den dreizehn Kindern meiner Großeltern waren fünf Schneider so wie mein Großvater. Alles was verkauft wurde, stellten sie selber her. Als ich schon etwas älter war, half ich beim Verkauf. Das mochte ich sehr, das war eine große Attraktion für mich.«
JÜRGEN LOEWENSTEIN war ein echter Berliner Junge, der bei seinen Großeltern Berthold und Agathe Sochaczewer wohnte. Als die Nazis sie der Wohnung »verwiesen«, zogen sie ins Scheunenviertel im Zentrum Berlins, und zwar in die Grenadierstraße 4a (heute Almstadtstraße 49). »In der Grenadierstraße wohnten vor allem Juden, die aus Polen gekommen waren. Die meisten waren kleine Händler, Schneider oder Schuster. Überall gab es kleine