Exkurs: Seitliche Extrusion im Miozän
Vorwort
In den späten 1960er-Jahren entwickelte sich aus der Wegener’schen Kontinentverschiebungstheorie heraus die Theorie der Plattentektonik, die inzwischen seit vielen Jahren eine allgemeine Akzeptanz erfahren hat. Es ist ihr gelungen, erstmals alle geowissenschaftlichen Phänomene unter einen Hut zu bringen und in einer gemeinsamen Synthese zu vereinigen. Ihre Grundzüge haben sich seit ihrer Formulierung in den 1960er-Jahren nicht geändert, wenn es auch in der Zwischenzeit viele Verfeinerungen und Korrekturen im Detail gab.
Die Erde unterliegt einem ständigen Wandel, was sich uns am eindrucksvollsten in vulkanischen Ereignissen und Erdbeben rund um den Pazifik oder in den großen Gebirgen zeigt. Während an den Mittelozeanischen Rücken neue Plattenteile entstehen, verschwinden ältere Plattenteile in den Subduktionszonen, und Gebirge werden durch Plattenkollisionen herausgehoben. Diese dynamischen Umwälzungen werden getrieben von der Wärme, die vom Inneren der Erde nach außen abgeführt wird und den Motor Erde am Laufen hält. Kontinentdrift, Gebirgsbildung, Vulkanismus, Erdbeben – und in deren Folge auch Flutwellen wie der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean –: All das ist Ausdruck dieser Dynamik.
Das vorliegende Buch will eine Einführung in die Plattentektonik sein, die für einen breiten, naturwissenschaftlich interessierten Leserkreis und Studierende gedacht ist. Es wird daher kein geologisches Spezialwissen vorausgesetzt, vielmehr werden Begriffe und Vorgänge ausreichend erklärt. Der Verständlichkeit dient auch ein Glossar am Ende des Buchs, das Stichwortverzeichnis ermöglicht das rasche Auffinden von Schlüsselstellen für bestimmte Themen und Begriffe.
Der Inhalt führt von einer geschichtlichen Einführung über die Geometrie von Plattenbewegungen zu den einzelnen plattentektonisch relevanten Zonen wie Grabenbrüchen, Passiven Kontinenträndern, Ozeanbecken, Mittelozeanischen Rücken und Subduktionszonen zu Transformstörungen. Im letzten Drittel beschreiben wir gebirgsbildende Vorgänge als Folge von Kollisionen von kleineren Terranen oder großen Kontinentschollen. Wir versuchen die Plattentektonik in der frühen Erdgeschichte zu rekonstruieren und stellen Gebirge vor, die nach „modernem“ Muster in den letzten zwei Milliarden Jahren entstanden sind. Dabei gehen wir auch auf das variszische Gebirge Mitteleuropas und abschließend auf den Himalaya und die Alpen ein.
Erstmals wurde das Buch „Plattentektonik“ im selben Verlag 1986 unter den Autoren W. Frisch und J. Loeschke herausgebracht. Die dritte Auflage (1993) erfuhr textliche Veränderungen. Das vorliegende Buch übernahm in weiten Teilen das Konzept dieses Buches, ist aber fast zur Gänze neu geschrieben, wesentlich erweitert und neu gestaltet worden. In den Text, für den Wolfgang Frisch verantwortlich ist, haben wir zahlreiche neue Forschungsergebnisse aus der Fachliteratur und aus eigener Forschung einbezogen. Ausgewählte Literaturhinweise sollen dem fachlich ambitionierten Leser einen Einstieg in die Fachliteratur erleichtern. Neu erstellt wurden die über 180 durchwegs farbigen Abbildungen, für die Martin Meschede verantwortlich zeichnet. Dem Verlag möchten wir danken, dass er die großzügige Ausstattung des Bandes ermöglichte.
Wolfgang Frisch und Martin Meschede
Tübingen und Greifswald, im Januar 2005
1. Kontraktionstheorie, Kontinentverschiebung und Plattentektonik
Plattentektonik – Paradigmenwechsel in den Geowissenschaften
Gebirgsbildung, in der altgriechischen Übersetzung als Orogenese bezeichnet, Kontinentverschiebung, Plattentektonik – diese grundlegenden geotektonischen Prozesse kann man unter dem Begriff Geodynamik zusammenfassen. Sie betreffen globale dynamische Prozesse auf der Erde und sind damit einem ständigen Wandel unterworfen. Während plattentektonische Prozesse, und sei es nur die Drift der Platten als solche, erdumspannend ablaufen, sind Gebirgsbildungsprozesse jeweils auf bestimmte, meist lang gestreckte Bereiche der Erdkruste konzentriert. Die kontinentale Erdkruste, auf der wir uns bewegen, besteht aber zumindest in der Tiefe überall aus Gesteinen, die irgendwann im Lauf der Erdgeschichte eine Gebirgsbildung durchgemacht haben, weshalb auch Gebirgsbildung als ein globales Phänomen zu betrachten ist.
Über das Entstehen von Gebirgen haben sich Geologen schon frühzeitig Gedanken gemacht. Die Erkenntnisse daraus wurden in die Theorie der Plattentektonik mit eingebaut. Alfred Wegeners Kontinentverschiebungstheorie, die als direkter Vorläufer der Plattentektonik gelten kann, hat allerdings erstaunlich wenig zum Verständnis von Gebirgsbildungsvorgängen beigetragen. Erst die Plattentektonik war imstande, alle dynamischen Erscheinungen unserer Erde zu einer einheitlichen Theorie zu vereinen und Erklärungen zuzuführen. Dieser in den 1960er-Jahren formulierte Paradigmenwechsel hat die Geowissenschaften revolutioniert und einer prozessorientierten und auf ursächliche Zusammenhänge abzielenden Betrachtungsweise der geodynamischen Vorgänge endgültig den Weg bereitet.
Geodynamische Konzepte vor Wegeners Kontinentverschiebungstheorie – die „Antike“ der Geodynamik
Als einer der Ersten befasste sich der französische Philosoph und Naturforscher René Descartes (1596 – 1650) mit dem Aufbau des Erdinneren und schlug in seinen „Principia philosophiae“ 1644 vor, dass die Erde einen Kern mit sonnenähnlicher Flüssigkeit enthalte, den Schalen von Gestein, Metall, Wasser und Luft umhüllten [Bonatti 1994]. Wenig später erkannte der dänische Naturforscher Niels Stensen alias Nicolaus Steno (1638 – 1686), dass Gesteine verformbar sind und die Ausgangslage deformierter Gesteine rekonstruiert werden kann [Steno 1669]. Peter Simon Pallas [1777], James Hutton [1795] und Leopold von Buch [1824], der als der Begründer der Tektonik als eines eigenständigen Wissenschaftszweigs gelten kann, sahen die Kräfte von aufsteigenden magmatischen Gesteinen als Hauptursache von Gebirgshebungen an. Diese Theorie fand im 19. Jh. viele Anhänger, was darauf beruhte, dass man vielfach granitische Gesteine entlang der Zentralachse von Gebirgen fand. Dem stand jene Lehre entgegen, der zufolge horizontale Kräfte zur Stauchung der Kruste führten und Auffaltungen verursachten [de Saussure 1796, Hall 1815]. Die Existenz starker horizontaler Einengung wurde später durch die Entdeckung großer Deckenüberschiebungen in den Alpen belegt.
Die Horizontalkräfte wurden im Allgemeinen als Folge der Kontraktion der Erde gesehen, die ein Zusammenstauchen der Erdkruste bewirkte [Élie de Beaumont 1852]. Die Kontraktionshypothese beruhte auf der Annahme einer ursprünglich glutflüssigen Erde, die einer stetigen Abkühlung und Schrumpfung unterlag. Nach heutiger Kenntnis wurde die durch kalte Zusammenballung kosmischer Materie entstandene Erde in ihrer Frühzeit vor allem durch Meteoriteneinschläge, aber auch durch den Zerfall kurzlebiger radioaktiver Isotope und freiwerdende kinetische Energie bei der Bildung des schweren Erdkerns aufgeheizt. Dennoch herrschten schon wenige hundert Millionen Jahre nach der Entstehung der Erde Temperaturen an ihrer Oberfläche, die die Existenz von flüssigem Wasser erlaubte. Eine Schrumpfung der Erde ist daher nicht wahrscheinlich, vielmehr geht man heute von einer allmählichen Vergrößerung des Durchmessers der Erde aus, weil sich aufgrund der Gezeitenreibung ihre Rotationsgeschwindigkeit verlangsamt – derzeit um 16 Millionstel Sekunden im Jahr. Zu Beginn des Kambriums vor gut einer halben Milliarde Jahre war der Tag um etwa zweieinviertel Stunden kürzer, das Jahr hatte 400 Tage.
Die Kontraktionstheorie, die bis weit in das 20. Jh. ihre Anhänger hatte, gilt heute als widerlegt. Der wissenschaftliche Disput, ob primär vertikale oder horizontale Kräfte zur Gebirgsbildung führen, ist eindeutig zugunsten der horizontalen Kräfte entschieden, die aber in der plattentektonischen Dynamik zu suchen sind, nicht in einem Schrumpfungsprozess. Der Aufstieg zum Gebirge ist ein sekundärer Prozess, der durch die Horizontalbewegung von Krustenschollen ausgelöst wird.