August Schrader

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)


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      Die Fabrikuhr deutete durch zwei halbe Schläge an, dass eine halbe Stunde vergangen war.

      »Mein Gott«, rief Anna überrascht, »schon halb elf Uhr? Nun, kann ich jetzt gehen?«

      »Ach, Verzeihung«, rief der glückliche Franz, »dass ich Sie so lange mit meinem lästigen Geschwätz aufgehalten habe. Auf Wiedersehen, auf recht baldiges Wiedersehen!«

      »Der Kommis küsste die niedliche Hand der Jungfrau, dann ging er durch den Weg, den er gekommen war, in sein Kontor zurück.

      Anna verließ, wie es schien, sinnend das Haus, bestieg einen Fiaker, der auf dem Platz hielt, und fuhr in das Innere der Stadt.

      Der alte Wilibald saß wieder an seinem Arbeitstisch; es schien jedoch, als ob heute die Arbeit nicht recht vonstattengehen wollte. Bald sah er durch das geöffnete Fenster in den klaren Morgenhimmel hinaus, sann einige Minuten nach und änderte kopfschüttelnd das soeben Geschriebene, bald stand er ungeduldig auf, durchschritt langsam das kleine Dachstübchen und legte ein Stück Zeug oder ein bestaubtes Buch zur Seite, denn die ärmliche Wohnung war nicht, wie gestern, gesäubert und geordnet, sondern die elenden Gegenstände lagen und standen bunt durcheinander, das Bett war, wie er es am frühen Morgen verlassen hatte, und Tisch und Stühle waren grau mit Staub überzogen.

      »Mein Gott«, flüsterte der Greis, indem er sich umsah, »wie sieht heute Morgen mein Zimmer aus! Wenn Frau Bertram, meine Nachbarin, fehlt, fehlt mir alles.«

      Dann begann er eifrig aufzuräumen und zu ordnen, säuberte mit einem Tuch, das er aus seinem grauen Rock zog, seinen Tisch und das schmale Fensterbrett vom Staub und tränkte die Blumen aus einem irdenen Krug mit frischem Wasser. Dann setzte er sich wieder an die Arbeit. Wohl eine Viertelstunde mochte er geschrieben haben, als er plötzlich die Feder niederlegte und sein greises Haupt in die hohle Hand stützte.

      »Revolution«, sprach er dumpf vor sich hin, »Revolution! Ja, wenn alle das Wort recht verständen! Kein Staat kann bestehen, wenn zügellose Freiheit oder Gesetzlosigkeit an der Tagesordnung sind; die Leidenschaften der Menschen würden die Sicherheit der Personen und des Eigentums aufheben und der Stärkere, wie im rohen Naturzustand, den Schwächeren überall unterdrücken. Eine Nation würde mit sich selbst in den Kriegszustand übergehen und sich zuletzt aufreiben. Dies macht den Stand der Bürger in der Revolution gefährlich; der Pöbel, von keinen Gesetzen in Schranken gehalten, äußert die Wirkungen seiner rohen Natur; wer ihm als Feind angegeben oder von ihm selbst dafür gehalten wird, dessen Kopf trägt er zuerst auf Piken durch die Straßen, bis er zuletzt das Herz der Schuldigen wie der verleumdeten Unschuldigen in Stücke zerreißt. Die zusammengerottete Pöbelmasse, von einem Bluthund in Marats Manier aufgehetzt oder von einem Tyrannen wie Robespierre geleitet, schreibt der Nation Gesetze vor, fordert die tugendhaftesten und edelsten Männer als Schlachtopfer und nur revolutionäre Despotie vermag sie zu zügeln. Selten sind die Menschen sich in Grundsätzen gleich, noch seltener haben sie dieselben Vorstellungen oder gleiche Meinungen. Hierdurch werden gewöhnlich, selbst unter den Vernünftigsten, Faktionen erzeugt, die den Bösen den Sieg über die bessere Partei, die unter sich uneinig ist, erleichtert, und in der Regel ist die Zahl der Guten kleiner als jene der Schlechten. Ehe nun die Nation nicht alle Perioden der Erfahrung durchlaufen hat, tritt sie nicht auf, Ordnung und Gesetz zu erhalten und die Besseren unter sich zu unterstützen; die Frevel einer revolutionären Regierung müssen die Nation erst aus dem Schlaf wecken, denn den Pöbel ausgenommen, der nichts zu verlieren hat, ist die andere Hälfte der Nation träge, aus Besorgnis, den Pöbel zu reizen, oder aus Furcht, sich selbst zu verderben. Revolutionen müssen auf Revolutionen folgen, eine die andere stürzen, bis sich zuletzt das Ganze zu einer konstitutiven Verfassung melioriert, die Revolutionen unmöglich macht. Eine revolutionäre Regierung ist eine Despotie, weil kein Gesetz sie beschränkt, weil alles dem Willen einer kleinen Anzahl von Männern untergeordnet ist. Und leider fehlt es keiner Nation an ehr- und herrschsüchtigen Menschen, welche die Gewalt, die ihnen das Zutrauen des empörten Volkes in die Hände gibt, missbrauchen. Und wer kann uns bürgen, dass eine vernünftige Konstitution, auf die Bedürfnisse der Nation ausgelegt, dem Unwesen des revolutionären Despotismus bald ein Ende macht? Ich verstehe das Wort ›Revolution‹, ich kenne deren Schrecken und sehe sie voraus; aber – ich kenne auch den Despotismus der Großen dieser Erde, ich kenne die Qualen einer vierundzwanzigjährigen Gefangenschaft, zu der mich die Willkür niederträchtiger Minister verdammt hat, weil ich die Wahrheit geschrieben und pfäffische Gräueltaten ans Licht gezogen habe. Mein ganzes Lebensglück hat die Hand eines Menschen zerstört, der mit frecher Willkür das Ruder des Staates lenkte, weil er allein die Herzlosigkeit dazu besaß, weil er allein das Netz zu weben vermochte, das man um Millionen von Menschen spann, um sie in körperlicher und geistiger Knechtschaft schmachten zu lassen. Ich war einer der Kühnen, die dieses Netz zerreißen wollten, und darum, weil ich der Regung meines Geistes folgte, wurde ich eingekerkert und moralisch gemordet. Das Volk hat diesen Elenden zwar gerichtet, die Revolution des März hat Gutes geboren, jener ist schimpflich aus dem Vaterland gejagt worden und mich hat die Großmut des Landesvaters, die er ausübte, um das empörte Volk zu beruhigen, wieder in Freiheit gesetzt: aber als ein markloser, abgezehrter Greis stehe ich da; die Kraft meines Lebens liegt im Staatsgefängnis begraben; nicht einmal so viel ist mir geblieben, dass ich die elende Maschine meines Körpers den kurzen Weg fortschleppen kann, den sie noch bis zum Grab zu machen hat – ich muss von dem Mitleid anderer leben! O hätte ich nie das Licht der Freiheit erblickt, hätte mich doch mein Kerker, der mir wenigstens Nahrung gewährte, ohne sie erbetteln zu müssen, begraben!«

      Der Greis sank mit dem Kopf auf den elenden Holztisch und lag mehrere Minuten da, als ob er still weinte; dann aber erhob er sich wieder und rief:

      »Nein, ich muss! Zwar ist die Hand abgehauen, die das nichtswürdige Netz webte, aber noch sind die Fäden desselben nicht zerrissen, noch gibt es der geschickten Schurken genug, die das Loch wieder ausbessern, das der erste Freiheitssturm hineingerissen hat. Ich will tausendmal lieber die jähen Schläge einer Revolution als das langsam schleichende Gift einer sogenannten gesetzlichen Regierung. Die Nachwelt wird auf dem Ruin unserer Zeit, auf den Trümmern unseres Glückes, auf den gehäuften Leiden erduldeten Despotismus, genannt Freiheit, eine glücklichere Periode wahrer Freiheit erbauen und dankbar die Früchte von dem Baum genießen, den ich jetzt pflanzen helfen will! Auf, Alter, kämpfe und räche dich!«

      Die Feder fuhr wieder über das Papier; die Zweifel, die die Arbeit des Greises unterbrochen zu haben schienen, waren durch dieses Selbstgespräch beseitigt und sein Geist erstarkt und ermutigt, denn es bildete sich Zeile um Zeile, sodass schon nach kurzer Zeit die Seite des grauen Papiers vollgeschrieben war. Als er das Blatt wenden wollte, wurde leise an die Tür geklopft. Ohne zu antworten, ergriff Vater Wilibald rasch sein Manuskript, legte es in den Kasten seines Tisches, verschloss denselben und steckte den Schlüssel in die Tasche; dann ging er zur Tür, schob einen kleinen Riegel zurück und öffnete.

      »Guten Morgen, Herr Wilibald«, sprach freundlich, aber nur halblaut, eine angenehme, weibliche Stimme.

      »Ach, mein liebes Fräulein!«, rief der Greis überrascht; »treten Sie doch bitte ein.«

      Der Greis öffnete so weit wie möglich die kleine Tür und Anna Hubertus, erhitzt vom Steigen der finsteren Treppen, trat mit hochroten Wangen ein.

      Die Verlegenheit des alten Mannes, dass er die schöne junge Dame in seinem ungeordneten Zimmer empfangen musste, war in der Tat komisch. Mit großer Emsigkeit schob er alles beiseite, was ihm nicht am rechten Platz zu stehen schien, doch stets brachte er dann den Gegenstand dahin, wo er am wenigsten an seinem Platz war – kurz, er musste zuletzt selbst darüber lächeln und Annas freundlicher Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, genügen. Anna war indes zum Fenster getreten, hatte den halb verwelkten Veilchenstrauß aus dem kleinen Becher entfernt und dafür die Rosen hineingestellt, die sie am Morgen im Garten ihres Vaters gepflückt hatte.

      »O mein Gott«, rief Herr Wilibald, »wie Sie für mich alten Mann sorgen! Gleich einem lieblichen Engel, der dem Paradies entstiegen ist, schmücken Sie den Aufenthalt der Armut mit den Kindern des Frühlings! Ihre Blumen sind das einzige Zeichen, das mich an den köstlichen Mai erinnert, denn aus meinen Fenstern sehe ich nichts als die grauen,