A. F. Morland

Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren


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      Sie hatte sich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

      Vergebens, wie sich jetzt herausstellte. Kinder sind überaus hellhörig, gerade in diesem Alter. Und sie erweisen sich als gnadenlose Beobachter.

      Endlich fiel die Haustür zu. Sie hörte das Garagentor hoch kippen und kurz darauf Walter mit Tina wegfahren; an der Schulbushaltestelle setzte er sie ab.

      Mit der gleichen Abwesenheit, mit der Walter von der Zeitung hoch gesehen hatte, blickte sie über den Frühstückstisch. Sie spürte eine nie gekannte Mattigkeit und empfand Unlust.

      Das Geschirr musste warten. Sie konnte es später abräumen.

      Wenn sie vielleicht ernstlich krank war und in die Klinik musste, wer kümmerte sich dann um die beiden? In häuslichen Dingen war Walter ungeschickt, und Tina war noch zu klein, bestimmt aber keine große Hilfe. Ein schönes Durcheinander würde das werden.

      Sie saß und dachte nach. Sicher wäre es besser gewesen, sie wäre zur Vorsorgeuntersuchung gegangen, wie Dr. Scharnitz ihr damals ans Herz gelegt hatte. Regelmäßig, mindestens einmal im Jahr.

      Zwei Jahre nach Tinas Geburt war sie einfach nicht mehr hingegangen.

      Ein unkluger Entschluss, wie sie sich nun eingestand.

      Sie musste Hermann dieses Versäumnis beichten. Gewiss war er nicht entzückt, höchstwahrscheinlich würde er ihr sogar gehörig den Kopf waschen.

      Was sollte sie ihm überhaupt sagen? Einfach schildern, was sie an sich beobachtete?

      Routine und Erfahrung im Klinikbetrieb setzten ihn sicher in die Lage, ihr zu sagen, was ihr fehlte.

      Nach einiger Zeit begriff sie, wie naiv sie dachte.

      Hermann war viel zu überzeugt von seinem Beruf, um eine Ferndiagnose zu stellen.

      Und würde er ihr überhaupt die Wahrheit sagen? Ein leises Misstrauen gegenüber jedem Arzt hatte sie stets erfüllt. Nicht, dass sie an der Fähigkeit gezweifelt hätte. Aber sie meinte, dass die Mediziner sehr oft nicht die Wahrheit sagten, die ganze Wahrheit. Und sie klammerte Hermann nicht aus.

      Wenn sie vielleicht selber ...? Wozu waren schließlich die medizinischen Bücher im Haus?

      Sie ging ins Wohnzimmer. Jeder Schritt bereitete ihr Schmerzen.

      Im Bücherregal suchte sie die Nachschlagewerke, die sie während der ersten beiden Lebensjahre von Tina angeschafft hatten. Das Baby war drei Wochen zu früh gekommen, bei der Geburt hatten sich Komplikationen ergeben. Für die ersten zwölf Lebensmonate galt Tina als Risikokind; sie hatten sich informieren wollen, was auf sie und das Kind möglicherweise zukam.

      Nervös suchte sie die Symptom-Beschreibungen. Sie wusste genau, dass sie die mal überflogen hatte.

      Die Bücher enthielten nicht nur Beschreibungen der gängigen Kinderkrankheiten, es waren auch allgemeinmedizinische Aspekte angesprochen. In einem Anhang gab es Stichworte zu Fachgebieten.

      Sie legte das Buch beiseite und nahm das nächste heraus. Hastig blätterte sie.

      Da war es – Unterleib.

      Ihr Finger glitt die Auflistung hinab.

      Dumpfer Druck – Myome.

      Dumpfer Druck und anhaltendes Völlegefühl – Ovarialtumoren.

      In Verbindung mit Schmerzattacken und blutigem Ausfluss: Menorrhagie, lang dauernde Gebärmutterblutung außerhalb der Menses. Ovarialkarzinom möglich.

      Sie las es noch einmal.

      Ganz plötzlich begann die Schrift vor ihren Augen zu tanzen und zu flimmern.

      Karzinom hieß Krebs oder Krebsgeschwür!

      Eine gemeine, furchtbare, niederträchtige Angst erfasste sie. Sie fühlte sich hundeelend und kämpfte mit den Tränen.

      Krebs! Sollte sie Krebs haben?

      Alles in ihr sträubte sich, lehnte sich auf gegen diese dumpfe Erkenntnis. Ausgeschlossen, wie sollte sie zu Krebs kommen?

      Dann wieder fraß sich der nagende Zweifel in ihr Herz. Sie war schließlich die letzten Jahre zu keiner Vorsorgeuntersuchung mehr gegangen. Vielleicht also doch!

      Mit einem wilden Trotz klammerte sie sich an die Hoffnung, dass sie sich irrte, dass sie in der Aufregung die Bedeutung des Wortes Karzinom verwechselte.

      Die Blätter knisterten, als sie eifrig, fast beschwörend blätterte.

      Unter Karzinom stand, was sie eben gelesen hatte. Kein Irrtum also!

      Sie wusste nicht, wie lange sie so stand und in das Buch starrte, ohne etwas zu sehen.

      Krebs – hämmerte es in ihrem

      Kopf. Wahrscheinlich Krebs!

      Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, das Herz pochte wild gegen die Rippen.

      Aber sie spürte es nicht. In ihr war alles tot und taub.

      Irgendwann setzte sie sich, weil die Beine sie nicht mehr trugen.

      Das Buch schlug zu Boden und klappte zu. Ihre Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Nun war die Reihe an ihr nach all den Fällen im großen Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft. Schlimme Fälle. Nicht alle, aber doch einige. Zu spät erkannt und zu spät behandelt. Zugenäht und wieder nach Hause geschickt, weil jeder Eingriff aussichtslos war.

      War es bei ihr auch bereits zu spät?

      Die dumpfe Lethargie fiel von ihr ab und wich der Panik.

      Warum gerade ich? Nein, ich will nicht sterben, ich will mich nicht zunähen und heimschicken lassen! Warum bin ich nie mehr zur Untersuchung gegangen? Warum nicht gleich zum Arzt, als es anfing?

      Sie war auf dem besten Weg, völlig durchzudrehen.

      Gehetzt blickte sie um sich, starrte auf die Bücherwand, das Fenster, auf die Blumen davor. Ihr Blick blieb auf dem kleinen roten Telefonbuch haften.

      Hermann! Ihn musste sie anrufen. Jetzt auf der Stelle. Er wusste Rat, ganz bestimmt. Er war doch Arzt, arbeitete doch in einer bekannten Klinik, er wusste doch, was jetzt zu tun war!

      Sie stand auf, spürte, dass alles schmerzte, dass sie völlig verkrampft war. Wie eine Ertrinkende griff sie nach dem Telefonbuch und schleppte sich in die Diele.

      In ihren Ohren rauschte es, in den Schläfen war ein Hämmern und Klopfen.

      Krebs! Du hast Krebs! Es ist zu spät!

      3

      Der Teufel steckt im Detail!, pflegte Dr. Winter zu sagen.

      Dieser Morgen trug dazu bei, diese Theorie zu erhärten.

      Um sieben Uhr gab es eine Notaufnahme, Beckenringbruch im neunten Monat. Die Frau hieß Anne Hauk, war 24, erstgebärend, das Kind befand sich in Steißlage. Der Unfall hatte sich vor vierzehn Stunden ereignet. Ein Sturz von der Leiter beim Fensterputzen.

      Schwester Luise, die Hebamme, wunderte sich schon längst nicht mehr darüber, wozu Frauen im neunten Monat in frommer Einfalt fähig waren.

      Die Patientin litt Höllenschmerzen. Die ganze Nacht hatte sie sich mit dem Beckenringbruch zu Hause herumgequält, bis dann gegen sechs in der Frühe die Eröffnungswehen einsetzten.

      Jetzt lag sie auf der Tabula, und die Ärzte sollten das Bestmögliche aus der Sache machen.

      Schmerzlindernde Injektionen schlugen nicht an, die Folge einer vorausgegangenen Cortisonbehandlung.

      Dr. Winter ließ einen Lachgasrausch geben und holte unter Assistenz von Dr. Inge Simon-Stoll einen kleinen Erdenbürger unter Anwendung des Barachtgriffes. In neuer persönlicher Bestzeit, wie ihm Schwester Luise unter Vorzeigen der Stoppuhr versicherte. Dabei hatte