Hans Kelsen

Was ist Gerechtigkeit?


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einer freien Wirtschaft vorzuziehen sei, hängt dann von unserer Entscheidung zwischen dem Wert der individuellen Freiheit und dem der wirtschaftlichen Sicherheit ab. Ein Mensch von starkem Selbstbewusstsein wird individuelle Freiheit vorziehen, während ein solcher, der unter einem Minderwertigkeitskomplex leidet, wirtschaftliche Sicherheit vorziehen wird. Das heißt aber, dass auf die Frage, ob individuelle Freiheit ein höherer Wert ist als wirtschaftliche Sicherheit oder wirtschaftliche Sicherheit ein höherer Wert als individuelle Freiheit, nur eine subjektive Antwort möglich ist, kein objektives Urteil wie etwa jenes, dass Eisen schwerer ist als Wasser und Wasser schwerer als Holz. Das aber sind Urteile über die Wirklichkeit, die verifiziert werden können durch Experiment – keine Werturteile, die eine solche Verifizierung nicht gestatten.

      9. Nach sorgfältiger Untersuchung eines Patienten stellt ein Arzt eine unheilbare Krankheit fest, die innerhalb kurzer Zeit zum Tode führen muss. Soll der Arzt dem Kranken die Wahrheit sagen oder darf er, oder soll er sogar lügen und dem Kranken sagen, dass seine Krankheit heilbar ist und keine unmittelbare Gefahr besteht? Die Entscheidung hängt von der Rangordnung ab, die wir in dem Verhältnis der beiden Werte: Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit annehmen. Dem Patienten die Wahrheit zu sagen bedeutet, ihn den Qualen der Todesfurcht auszusetzen; den Kranken belügen bedeutet, ihm diese Qual zu ersparen. Wenn das Ideal der Wahrhaftigkeit über dem der Menschlichkeit steht, muss der Arzt die Wahrheit sagen; wenn dagegen das Ideal der Menschlichkeit über dem der Wahrhaftigkeit steht, muss der Arzt lügen. Aber die Antwort auf die Frage, welcher dieser beiden Werte der höhere ist, ist auf Grundlage rational-wissenschaftlicher Erwägungen nicht möglich.

      10. Wie früher bemerkt, vertritt Platon die Ansicht, dass der Gerechte, und d. h. bei ihm der sich rechtmäßig Verhaltende, und nur der Gerechte glücklich ist, der Ungerechte, und d. h. der sich rechtswidrig Verhaltende, aber unglücklich ist. Platon sagt, »dass das gerechteste Leben das glückseligste ist«. Dennoch gibt er zu, dass vielleicht in dem einen oder anderen Fall ein gerechter Mann unglücklich und ein ungerechter Mann glücklich sein könnte. Aber, so fügt der Philosoph hinzu, es ist absolut nötig, dass die dem Rechtsgesetz unterworfenen Bürger an die Wahrheit der Behauptung glauben, dass nur der Gerechte glücklich ist, selbst wenn diese Behauptung nicht wahr sein sollte; andernfalls würde ja niemand dem Gesetz gehorchen. Folglich hat die Regierung nach Platon das Recht, unter den Bürgern mit allen Mitteln der Propaganda die Lehre zu verbreiten, dass der gerechte Mann glücklich und der ungerechte Mann unglücklich ist, selbst wenn dies eine Lüge ist. Wenn dies eine Lüge ist, dann ist es eine höchst nützliche Lüge, denn diese Lüge garantiert den Gehorsam gegenüber dem Gesetz. »Könnte ein Gesetzgeber, der zu irgendetwas taugt, eine nützlichere Lüge erfinden als diese, oder eine, die die Bürger wirksamer dazu veranlassen könnte, freiwillig und ohne Zwang gerecht zu handeln?« »Wenn ich Gesetzgeber wäre, würde ich die Schriftsteller, ja alle Bürger zwingen, sich in diesem Sinne zu äußern, dahin nämlich, dass das gerechteste Leben das glücklichste ist.«1 Nach Platon ist die Regierung durchaus berechtigt, von Lügen Gebrauch zu machen, die sie für heilsam hält. Platon stellt die Gerechtigkeit, und das heißt hier, was die Regierung dafür hält, nämlich Gesetzmäßigkeit, über die Wahrheit. Aber es gibt keinen hinreichenden Grund, der uns verbieten würde, die Wahrheit über die Gesetzmäßigkeit zu stellen und eine Regierungspropaganda als unsittlich abzulehnen, die auf Lügen beruht; selbst wenn diese Lügen einem guten Zweck dienen.

      11. Die Antwort auf die Frage nach der Rangordnung der Werte – wie Leben und Freiheit, Freiheit und Gleichheit, Freiheit und Sicherheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit, Individuum und Nation – muss verschieden ausfallen, je nachdem die Frage sich an einen gläubigen Christen richtet, der sein Seelenheil, d. i. sein Schicksal nach dem Tode, für wichtiger hält als irdische Güter, oder an einen Materialisten, der nicht an eine Unsterblichkeit der Seele glaubt; und die Antwort kann nicht dieselbe sein, wenn sie unter der Annahme gegeben wird, dass Freiheit der höchste Wert ist, d. i. vom Standpunkt des Liberalismus, oder unter der Voraussetzung, dass wirtschaftliche Sicherheit das letzte Ziel einer Gesellschaftsordnung ist, d. i. vom Standpunkt des Sozialismus. Und die Antwort wird stets den Charakter eines subjektiven und daher bloß relativen Werturteils haben.

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