Steine, die eigentlich zum Pressen der Blätter geholt worden waren, wurden nun auf das Grab des alten Anführers gelegt. Ein Grab ohne Inschrift. Das Buch des Älteren Toruk würde nie geschrieben werden.
„Die Götter scheinen nicht auf unserer Seite zu sein“, murmelte Li leise, während sie auf das nun nutzlos gewordene Schöpfbecken blickte, in dem der Papierbrei bereits zu einer bröckeligen, porösen Masse zu trocknen begann, die entfernt an ein riesenhaftes Wespen- oder Hornissennest erinnerte.
„Nein“, widersprach Wang. „Wir haben nur noch nicht erkannt, was sie für uns bestimmt haben...“
Fünftes Kapitel: Auf dem Weg in die Stadt der Bücher
Etwa eine Woche später traf eine Karawane von zwanzig Kamelen im Lager ein. Der jüngere Toruk war inzwischen der unbestrittene Anführer. Aber er hielt offenbar nicht viel von dem Gedanken, die Taten seines Vaters in einem Buch zu verewigen.
Der Karawanenführer war ein Turkmene namens Babrak. Er war ein Mann mit dunklen Augen und einem inzwischen graumelierten Bart, der seinem Gesicht etwas Keilförmiges gab. Li glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie ihn an der Spitze seiner Karawane ins Lager ziehen sah. Babrak ritt auf einem kleinen, stämmigen Steppenpferd, genau wie einige bewaffnete Begleiter, deren Aufgabe es war, die Karawane zu schützen, die aus den schwer beladenen Kamelen und ihren Treibern bestand.
„Ist das ein Traum, oder sehe ich da Babrak den Feilscher?“, entfuhr es Li.
Gao, der gerade damit beschäftigt war, seine Kleidung notdürftig zu reinigen, blickte auf.
„Doch, das ist er“, murmelte er. „Aber frag mich nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, Li!“
„Warum sollte es kein gutes Zeichen sein?“, fragte Li.
„Nur, weil Babrak der Feilscher in Xi Xia keinen Marktplatz auslässt und wir schon des Öfteren gute Geschäfte mit ihm gemacht haben, heißt das nicht, dass der Kerl jetzt nicht die Gelegenheit nutzt, um ein Geschäft zu machen, bei dem wir die Ware sind.“
„Und wenn schon“, murmelte Li. „Alles ist besser, als hier zu bleiben und vielleicht noch einmal einen blutigen Schädel vor die Füße geworfen zu bekommen, den ich zubereiten soll!“
Unterdessen sahen sie zu, wie Babrak der Feilscher, von seinem Pferd stieg und den jungen Toruk begrüßte. „Allah ist groß!“, rief Babrak in gebrochenem Persisch. „Nur die Reichweite meiner Karawane ist größer!“
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es sich wirklich um denselben Händler handelte, von dem Meister Wang schon ganze Ballen von Seidenlumpen gekauft hatte, dann war er jetzt zweifellos erbracht. Denn das war der übliche Spruch von Babrak dem Feilscher, den er in vier oder fünf Sprachen beherrschte und damit nicht selten das Stirnrunzeln des einen oder anderen muslimischen Glaubensbruders hervorgerufen hatte, der einer strengeren Auslegung seiner Religion folgte. Vor allem für Perser und Araber traf dies zu, während bei den Völkern, die entlang der Seidenstraße siedelten, der Glaube an Allah weder mit demselben missionarischen Eifer, noch mit der gleichen Sittenstrenge gelebt wurde.
In dem Gefolge von Babrak dem Feilscher bemerkte Li einen Mann in brauner Kutte und mit einem Kreuz aus Holz auf der Brust. Ein christlicher Mönch, erkannte sie. Er reiste offenbar mit der Karawane. Er schien kein Gefangener zu sein. Die Kameltreiber und die Männer in Babraks Gefolge behandelten ihn mit großem Respekt. Allerdings ging er zu Fuß. Seine Habe war lächerlich gering und passte in ein kleines Bündel, das er bei sich trug. Bart und Haare schien er schon seit vielen Jahren nicht mehr geschoren zu haben, beides reichte ihm fast bis in Höhe des Bauchnabels und war ausgesprochen verfilzt. Viele unvorstellbar ekelhaften Gerüchte kursierten über die mangelnde Sauberkeit der Menschen des Westens. Diese Gerüchte waren die Seidenstraße entlanggewandert und hatten sich über Xi Xia bis nach Bian verbreitet.
Der junge Toruk und Babrak der Feilscher schienen sich schnell einig geworden zu sein, denn es dauerte nicht lange und die Strenge wurde zu ihnen geschickt und wies Meister Wang, Gao und Li auf ihre gewohnt unfreundliche Art und Weise an, sich reisefertig zu machen.
„Euer Papier taugt ja vielleicht, um damit Feuer zu machen!“, meinte sie.
Etwas später kam Babrak der Feilscher zu ihnen, um sich seine Ware anzusehen. „Sei gegrüßt Meister Wang! Und dein Geselle und deine Tochter natürlich ebenso! Dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen muss Allahs Wille ein... Du solltet dir übrigens nicht wünschen, nach Xi Xia zurückzukehren, denn dort sind Unruhen ausgebrochen und die Zukunft des Reiches ist unsicher. Es ist nicht einmal gesagt, wann ich das nächste Mal bis Bian gelangen und Seide kaufen werde, denn der Weg ist derzeit zu unsicher.“
„So sollen wir dir für unsere Lage auch noch dankbar sein?“, entfuhr es Meister Wang, der ausnahmsweise einmal die Fassung zu verlieren drohte.
„Hör zu, Papiermacher, ich weiß um die Qualität deines Handwerks. Ich werde einen guten Preis für dich bekommen, wenn ich dich in Samarkand abliefere, denn dort ist der Hunger nach Papier unersättlich. Dich hätte ein schlimmeres Los ereilen können! Vergesst übrigens nicht, eure Siebe mitzunehmen. Es kann sein, dass ihr sie schon bald benutzen werdet.“
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Schon am nächsten Morgen brach die Karawane auf. Babrak der Feilscher schien es eilig zu haben, weiter nach Westen zu gelangen und Li bekam mit, dass er Toruk den dringenden Rat gab, das Lager so schnell wie möglich abzubrechen und ebenfalls weiter zu ziehen, denn nicht nur die Unruhen würden sich ausdehnen, sondern auch ein Fieber, verbunden mit starkem Durchfall. Es gab also mehrere Gründe, sich nach Westen zu wenden.
Li hatte ein Bündel geschnürt, das ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Darunter war auch das Sieb aus Rosshaar, das ihr Vater für sie angefertigt hatte.
„Bewahre es gut auf“, sagte er. „Neben dem Wissen um unsere Kunst ist das Handwerkszeug das wichtigste...“
„Ich weiß“, sagte sie und raffte es unter ihre unförmige Kleidung.
Die Sonne stieg als glutroter Feuerball hinter den Bergen im Osten auf, während die Karawane sich in Bewegung setzte. Die anderen Gefangenen sahen ihnen nach, denn Babrak der Feilscher hatte nur die drei Papiermacher mitgenommen.
„Ich frage mich, ob er sich mehr Gefangene nicht leisten konnte oder ob er wirklich glaubt, dass er mit uns ein besonders gutes Geschäft machen kann!“, rätselte Gao.
„Was