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Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland


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Hilfe ihrer eigenen Bestimmungen aus dem Scharnier [zu] hebeln“ (Benz 2010: 417). Das aber ist nur eine Möglichkeitsstruktur und nicht einmal die entscheidende. Denn es waren die (Fehl-)Entscheidungen von Menschen, die durch ihr Handeln das Ende der Weimarer Republik möglich machten: „Die Parteien versagten sich, die Wähler gingen Wege aus der Verfassung hinaus. Dagegen ist jede Verfassung machtlos“ (Kielmansegg 2019: 237).

      Deutlich geworden sollte sein, dass mit Verfasstheit mehr gemeint ist als ein Verfassungstext. Zwar bietet ein solcher Möglichkeiten oder setzt Einschränkungen für den politischen Gestaltungs- und Zerstörungswillen, ob eine andere Konstruktion der Weimarer Verfassung aber ein zutiefst erschüttertes politisches System wie das der Weimarer Republik unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und der antidemokratischen Strömungen aufrecht hätte erhalten können, ist da kontrafaktisch nicht zu beantworten. Für das Grundgesetz ergeben sich daraus aber zwei Fragen: Ist es tatsächlich geeignet, aufgrund seiner Konstruktion „Funktionsstörungen des demokratischen und parlamentarischen Systems“ zu verhindern (Benz 2010: 419) und in welchem Verhältnis steht es zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

      Denn als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 verkündete, sah die Welt ganz anders aus als heute. Im Kalten Krieg aus der Taufe gehoben, war die westdeutsche Verfassung das Organisationsstatut eines Teilstaates und sollte – so die Präambel – als Provisorium „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung […] geben“, bis das „gesamte deutsche Volk“ in der Lage sein würde, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ (Bundesgesetzblatt 1949: 1).

      Es war zudem in doppelter Frontstellung sowohl gegen die überstandene, gleichwohl aber nachwirkende NS-Diktatur als auch gegen den sich in Ost-Mittel-Europa durchsetzenden Stalinismus konzipiert (vgl. Seifert 1991). Daher ist es als „Grundrechtestaat“ (Batt 2003: 32) in seinen Grundlagen und Prinzipien gegen jegliche Verfassungsaushöhlung oder durchbrechung durch die Schutzbestimmungen der Artikel 19 Abs. 2 GG („Wesensgehaltsgarantie“ der Grundrechte) und Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) gewappnet. Sicher ist sicher. Das gilt jedoch auch für die Ausgestaltung des Demokratieprinzips, wo das Grundgesetz in Hinsicht auf plebiszitäre Elemente (z.B. Direktwahl des Bundespräsidenten, Volksentscheide im Bundesgebiet) extrem zurückhaltend, ja geradezu misstrauisch ist.

      Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich aufgrund der Diktaturerfahrung weitestgehend darin einig, dass es im Verfassungstext um [21] den Schutz der Bürger vor staatlichen Übergriffen gehen müsse („Der Staat ist für den Bürger da, nicht umgekehrt!“), was zugleich einige institutionelle Garantien (z.B. in Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie) bedingte. Keine Einigung bestand hinsichtlich der Festlegung einer konkreter Wirtschafts- und Sozialordnung. Daher ist das Sozialstaatsprinzip weit weniger ausgebildet als Demokratie, Republik, Bundesstaats- und Rechtsstaatsprinzip. Es entspricht daher eher einer Staatszielbestimmung (Hesse 1999: 91). Der Grund liegt in den Umständen der Zeit, aber auch in den Mehrheitsverhältnissen im Parlamentarischen Rat: 1949 konnte niemand vorhersehen, wie erfolgreich die Bundesrepublik wirtschaftlich sein würde (vgl. Detjen 2009: 66). Zudem lässt eine Nichtfestlegung mehr Raum für politische Gestaltung – auch die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag waren nicht vorhersehbar.

      Aber das Grundgesetz des Jahres 1949 ist nur mehr bedingt das Grundgesetz des Jahres 2019 bzw. 2020. Der sich über Jahrzehnte vollziehenden Wertewandel, die zunehmenden Komplexität des Bund-Länder-Verhältnisses und der Finanzverfassung, die Integration der Bundesrepublik in Europa und der internationalen Staatenordnung und nicht zuletzt die Wiedervereinigung machten Änderungen des Grundgesetzes unumgänglich, ohne jedoch den Verfassungskern zu berühren und die grundlegenden Strukturprinzipen zu verändern. In über 60 Änderungen wurden zahlreiche Artikel des Grundgesetzes modifiziert, gestrichen oder neu eingeführt: z. B. Hineinschreiben des Umweltschutzes ins Grundgesetz, mehrmalige Veränderung der Aufgaben- und Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern, Aufnahme der europäischen Dimension und der vereinigungsbedingten Änderungen (z.B. die Anzahl der Bundesländer und die Stimmverteilung im Bundesrat betreffend).

      Das Grundgesetz scheint damit auf den ersten Blick das Beispiel einer sich erfolgreich an die Zeiten anpassenden, gleichwohl beständigen, zudem in der Bevölkerung breit akzeptierten und prinzipiell nicht in Frage stehenden Verfassung – die Verfassung einer „geglückten Demokratie“ (Wolfrum 2007). Das eben ist der Unterschied zur Weimarer Republik. Trotz eines enormen Gesellschafts- und Wertewandels, trotz der Friktionen im Vereinigungsprozess von Bundesrepublik und DDR sowie der Herausforderungen von Migration und Globalisierung weist die politische Kultur Deutschlands ein hohes Maß an Demokratiezustimmung auf. Bis vor Kurzem war weder eine Legitimationskrise der deutschen Demokratie noch eine zunehmende Kluft zwischen West- und Ostdeutschen messbar, wohl aber Skepsis in Bezug auf „Prozesse der religiösen Pluralisierung“ – sowie damit einhergehend eine „negative Wahrnehmung muslimischer Bürger“ – und eine etablierte Politiker- und Parteienverdrossenheit (Pickel 2015: 190ff.). Im Lichte der Veränderungen des Parteiensystems, der Konjunktur von Populismus und eines wieder- bzw. neuentdeckten Ost-West-Gegensatzes muss sich erweisen, ob diese Einschätzung [22] auf absehbare Zeit Bestand hat, denn die Stabilität einer politischen Ordnung ist kein Naturgesetz.

      Die Verfasstheit der Republik spiegelt sich denn auch in der Frage nach der Verfassung wider. So ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder Vorschläge gab, das Grundgesetz zu erneuern oder gar durch eine „echte“ Verfassung zu ersetzen, über die tatsächlich das Volk selbst abstimmt, z.B. im Jahr 2009 vom damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering. Damit war er damals nicht allein: 2009 waren Ost- wie Westdeutsche „ganz überwiegend (83 Prozent) der Meinung, dass das 60 Jahre alte Grundgesetz einer ‚grundlegenden‘ bzw. ‚teilweisen‘ Überarbeitung bedarf“, wobei diese Haltung bei den Ostdeutschen stärker auf eine „grundlegende“ Überarbeitung abhob (Vorländer 2009: 16). Dabei sind die Vorstellungen einerseits nahe beieinander (Grundrechtsschutz), andererseits weit voneinander entfernt (Wirtschaftsordnung).

      Noch immer heißt das Grundgesetz aber so wie 1949, obwohl durch den Abschluss des Einigungsvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten am 31. August 1990 die Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 wiederhergestellt wurde. Basis war der damalige Art. 23 GG, der den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte, nicht der Weg über Art. 146 GG, also über eine neue Verfassung. Prinzipiell ist damit immer noch die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung möglich, auch wenn kein Verfahren dazu festgelegt wird – eigentlich ein „Kuriosum“ (Rödder 2010: 332). Aber das passt gut zur Staatsorganisation in Deutschland: eine „komplexe Republik“ (Höreth 2016) eben.

      Alles in allem wird das Grundgesetz trotz Kritik im Einzelnen überwiegend als „Erfolgsgeschichte“ und „zuverlässiges, stabiles, kalkulierbares Regelwerk für die Politik“ bewertet. Insbesondere der Vergleich zur Weimarer Republik erweise, „dass es in der Bundesrepublik bislang nie zum systematischen Versagen der verfassungspolitischen Institutionen und Verfahren gekommen ist“ (Schmidt 2016: 40). Die für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlichen Faktoren (s.o.) sind entweder institutionell oder politisch gebändigt: Verfassungsaushöhlungen und durchbrechungen erlaubt das Grundgesetz nicht. Und noch hat keine Wahl eine antidemokratische Mehrheit hervorgebracht. Gleichwohl ist damit keine Gewähr für die Koalitionsfähigkeit der demokratischen Parteien gegeben. Der Prozess der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017, das Scheitern der Sondierungsgespräche zur Etablierung einer „Jamaika-Koalition“ aus CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen sowie die insbesondere in der SPD anhaltende Diskussion um den Bestand der Koalition aus CDU/CSU und SPD zeigen, dass eine numerische Koalitionsfähigkeit noch keine Koalition ergeben muss. Die Zukunft wird erweisen müssen, ob insbesondere aus der anhaltenden Krise des etablierten Parteiensystems eine Krise des Parlamentarismus und damit einhergehend eine [23] der Demokratie wird, denn wenn es zum Vertrauensverlust in das Parlament kommt, „dann sind Gefährdungen auch der Legitimität eines demokratischen Systems und seiner Stabilität nicht unvorstellbar“ (Pickel 2015: 191). Droht der Berliner Republik am Ende doch das Schicksal der Weimarer?

      3. Folgerungen für die politische Bildung

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