Mascha Dabić

Dolmetschen in der Psychotherapie


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S. 29). Ergänzend zu dieser Begriffsdefinition und bezugnehmend auf das Thema Dolmetschen in der Psychotherapie sei angemerkt, dass eine Gesellschaft, ebenso wie eine Einzelperson, unterschiedliche Perioden durchläuft – eine Friedensperiode unterscheidet sich maßgeblich von einem Kriegszustand. Somit ist bei der Auseinandersetzung mit KlientInnen aus anderen Kulturkreisen unbedingt zu bedenken, dass deren Verhalten zum Teil sicherlich kulturell bedingt sein mag, zu einem anderen Teil jedoch auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie Kriegserleben, Flucht, Migration, extreme Armut, Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus, individuelle Aspekte etc.

      2.1 Kulturelle Prototypen

      Hepp bietet eine Typologie der Kulturen mit vier Kategorien (2006: 56):

       Hierarchische Kultur: Ständegesellschaften, Kastensysteme oder Bürokratien. Dieser Prototyp ist durch prinzipielle Ungleichheit zwischen den Mitgliedern gekennzeichnet. Die hierarchische Ordnung wird gegen Veränderungen verteidigt, da Stabilität höher bewertet wird als dynamische Entwicklung.

       Individualistische Kultur: individualisierte Marktgesellschaften, markt- bzw. wettbewerbsorientierte Unternehmungen. In solchen Kulturen muss jeder prinzipiell die Chance haben, jede Position einzunehmen, sofern er durch eine beobachtbare Leistung dazu in der Lage ist und sich im Wettbewerb durchgesetzt hat. Positionen können erworben werden, sind also nicht von vornherein gegeben und festgelegt.

       Egalitäre Kultur: Basiskommunismus, frühe amerikanische Siedlerkulturen, alternative Bewegungen. In solchen Gemeinschaften wird eine Gleichheit für alle Mitglieder postuliert. Jedes Mitglied kann theoretisch jede Position einnehmen, wobei Positionen weder vererbt, noch notwendigerweise durch Leistung erworben werden. In solchen Kulturen wird gegen Bestrebungen, Ungleichheit herzustellen, aktiv vorgegangen.

       Fatalistische Kultur: Bettler- oder Ausgestoßenenkulturen am unteren Ende der sozialen Skala, Gruppierungen von Künstlern und Intellektuellen am oberen, elitären Ende. Die Mitglieder einer fatalistischen Kultur sind nicht in feste Zusammenhänge eingebunden, sondern sind isoliert und gleichzeitig rigorosen Regelungen unterworfen. Die Mitglieder verfügen über Mechanismen, die ihr eigenes soziales und mentales Überleben innerhalb der Kultur gewährleisten.

      Bei psychotherapeutischen Gesprächen spielt die kulturelle Verortung der KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen eine wichtige Rolle, wobei mangelnde Kenntnisse über die Herkunft der KlientIn sicherlich zu klischeehaften und stereotypen Annahmen verleiten kann, etwa im Hinblick auf die Religiosität, Rolle der Frau, Ausprägung des Patriarchats etc. Wenn es in einer Psychotherapie darum geht, eine KlientIn kulturell zu verorten oder relevante Aussagen über ihren/seinen kulturellen Hintergrund zu treffen, dann ist es notwendig, über den ethnischen, sprachlichen und länderspezifischen Kontext hinaus auch andere Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa die soziale Stellung der Familie, ob die Sozialisierung im ländlichen oder im urbanen Raum erfolgte, Ausbildungs- und Bildungsniveau sowie sonstige Einflüsse: Beispielsweise ist ein tieferes Verständnis der Kulturen im postsowjetischen Raum ohne eine Berücksichtigung der sowjetischen Prägung nicht möglich. So stellt es wohl eine Verkürzung dar, etwa von einer „tschetschenischen Kultur“ zu sprechen (gekennzeichnet durch patriarchale, traditionelle Strukturen und einen hohen Stellenwert des Islams), ohne mitzubedenken, dass die meisten älteren Mitglieder der tschetschenischen Volksgruppe in ihrer Sozialisierung stark von sowjetischen Vorgaben betroffen waren, im Schulsystem, am Arbeitsplatz, durch die Medien, durch die kulturelle Produktion und auch in anderen Sphären. In der Psychotherapie soll es nicht darum gehen, diese Einflüsse zu bewerten (oder zu entwerten), aber für ein umfassendes Verständnis der kulturellen Sozialisation einer KlientIn ist es von Bedeutung, auch historische, politische und gesellschaftliche Faktoren miteinzubeziehen.1

      2.2 Sprache und Kultur

      Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kultur findet in der Sprache ihren Ausdruck, und Sprache formt wiederum die Kultur. Somit geht das Erlernen einer Sprache unweigerlich mit dem Kennenlernen kultureller Gegebenheiten einher. Sprachkenntnisse ermöglichen idealerweise das Eintauchen in neue Kulturen, sowie im Gegenteil weitgehend gilt, dass mangelnde Sprachkenntnisse es Menschen verunmöglichen oder zumindest erschweren, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.

      Als das Medium, mit dem wir unsere Erfahrungen und Interpretationen der Realität kommunizieren, ist Sprache „ein wesentlicher Ausdruck und gleichzeitig auch Träger der Kultur“ (Kadrić et al. 2012: 34), wenn auch nicht das einzige: paraverbale und nonverbale Mittel, Kleidung, Mimik und Gestik sind ebenfalls Elemente der Kommunikation, allerdings fällt es meistens nicht in den Zuständigkeitsbereich der DolmetscherIn, diese zu übertragen oder zu deuten, weil die GesprächspartnerInnen diese Deutung meist selbst vornehmen.

      Die Existenz sowie auch das Fehlen von Begriffen zeigen auf, welche Aspekte der Realität eine Kulturgemeinschaft wahrnimmt bzw. begreift und welche nicht. Gerade beim translatorischen Handeln entsteht ein Bewusstsein darüber, welche Begriffe und Wörter in einer Sprache „fehlen“ oder einer zusätzlichen Erklärung bedürfen.

      Die Assoziationen, die mit dem Begriff „Kultur“ einhergehen, sind im Spannungsfeld zwischen Bereicherung und Bedrohung zu verorten, wobei man als Medienkonsument nicht umhin kann, derzeit eine Tendenz hin zum zweiteren zu beobachten.

      Im Kontext der dolmetscherunterstützen transkulturellen Psychotherapie kann die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff nicht differenziert und sorgfältig genug geführt werden. Eine kultursensible Herangehensweise an die Anliegen der KlientInnen ist unabdingbar, zugleich birgt die Betonung (vermeintlich) kultureller Unterschiede immer auch das Risiko der Pauschalisierung, Klischeeisierung und Exotisierung in sich, sowie die Gefahr, soziale oder individuelle Faktoren zu kulturalisieren (also, der „Kultur“ der KlientInnen zuzuschreiben) und damit die eigentlichen, zugrundeliegenden Zusammenhänge zu übersehen oder fehl zu interpretieren. Wenn „kulturelle Besonderheiten“ als Erklärung für unverständliches oder befremdliches Verhalten von Menschen aus anderen Ländern herangezogen werden, dann ist es notwendig zu differenzieren, ob die genannte Verhaltensweise in der jeweiligen Kultur überhaupt sozial erwünscht, akzeptiert oder geächtet ist.

      Menschen, die beruflich mit der Thematik Asyl und Migration befasst sind, sind explizit oder implizit ständig mit der Anforderung konfrontiert, sich mit kulturellen (oder vermeintlich kulturellen) Aspekten auseinanderzusetzen, was eine kritische Reflexion der eigenen kulturellen Prägung unbedingt miteinschließt. Das gilt insbesondere für DolmetscherInnen, die in mehrfacher Hinsicht eine vermittelnde Funktion an den Schnittstellen ausüben:

       zwischen Sprachen

       zwischen Menschen in ihrer persönlichen Betroffenheit einerseits und Organisationen mit ihren jeweiligen „Organisationsstrukturen“ andererseits

       zwischen den jeweiligen kulturell geprägten oder bedingten Verhaltensmustern der involvierten GesprächspartnerInnen

       zwischen der (scheinbaren) Arbeitsroutine der jeweiligen Organisation einerseits und dem (prolongierten und mitunter chronifizierten) Ausnahmezustand im Leben der KlientInnen andererseits

       zwischen jenen, die Hilfe/Unterstützung benötigen, und jenen, die Hilfe/Unterstützung gewähren (oder verweigern)

      Diese Auflistung ließe sich fortsetzen, denn in jedem einzelnen Gespräch, das eine DolmetscherIn im sogenannten Kommunalbereich ermöglicht und aktiv mitgestaltet, laufen zahlreiche Fäden zusammen, die Folge und Ausdruck politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller, individueller und psychologischer Realitäten und ihres jeweiligen Zusammenspiels sind.

      Es ist möglich, sich dem Begriff „Kultur“, der durchaus auch als politisch-ideologischer Kampfbegriff gebraucht werden kann, von unzähligen Seiten zu nähern. Im vorliegenden Kapitel soll der Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff im psychotherapeutischen und psychoanalytischen Bereich gelegt werden.

      2.3 Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze

      Immer