hat? Nach den eigentlichen Kolonisierten, den Algeriern, Marokkanern oder Schwarzafrikanern wurde es allmählich von anderen anerkannt, in Anspruch genommen und genutzt, die in anderer Weise beherrscht werden, wie manche südamerikanische Länder, die Japaner oder die Neger in den Vereinigten Staaten. Die letzten in dieser Reihe waren die Kanadier französischer Abstammung, die mir die Ehre erwiesen, dass sie glaubten, zahlreiche Muster ihrer eigenen Entfremdung darin wiederzufinden. Ich konnte das Leben dieses Buches nur mit Erstaunen beobachten, so wie ein Vater mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis seinen Sohn beobachtet, der dabei ist, sich einen Ruf zu erwerben, bei dem sich Beifall und Entrüstung mischen. Tatsächlich hatte dies nicht nur Vorteile, denn ein solcher Wirbel hat gerade dazu geführt, dass etliche Passagen übersehen wurden, die mir sehr am Herzen lagen. Dazu gehören die Ausführungen über das, was ich als Nero-Komplex bezeichnet habe; die Beschreibung des kolonialen Verhältnisses als objektiver Zustand, dem beide Partner der Kolonisation unterworfen sind; oder der Versuch einer Definition des Rassismus im Zusammenhang mit der Herrschaft einer Gruppe über eine andere; oder auch die Analyse des Scheiterns der europäischen Linken, insbesondere der kommunistischen Parteien, weil sie den nationalen Aspekt der kolonialen Befreiungsbewegungen unterschätzt hatten; und vor allem außer einem Porträt, das ich so abgeklärt wie nur möglich wollte, die Bedeutung und der unersetzliche Reichtum der gelebten Erfahrung.
Denn trotz allem denke ich immer noch, dass zumindest in meinen Augen der Wert dieses Unterfangens in seiner ursprünglichen Bescheidenheit und Besonderheit liegt, so dass nichts in diesem Buch auf Erfindungen und Spekulationen oder sogar auf willkürlichen Extrapolationen beruht. Es handelt sich an jeder Stelle um eine Erfahrung, die zwar stilisiert und in eine Form gebracht, aber hinter jedem einzelnen Satz verborgen ist. Und wenn ich schließlich einverstanden war mit diesem allgemeinen Gang, den das Unternehmen am Ende angenommen hat, so eben deshalb, weil ich weiß, dass ich für jede Zeile, jedes Wort zahlreiche und völlig konkrete Tatsachen beibringen könnte.
Aus diesem Grund hat man mir vorgeworfen, dass meine Porträts nicht gänzlich auf einen ökonomischen Unterbau gestellt sind, obwohl ich es oft genug wiederholt habe, dass der Begriff des Privilegs im Zentrum des Kolonialverhältnisses steht, ohne Zweifel ein ökonomisches Privileg. Und ich benutze die Gelegenheit, nochmals nachdrücklich zu bestätigen: für mich ist der wirtschaftliche Aspekt der Kolonisation grundlegend. Geht aus diesem Buch nicht die Anprangerung einer vorgeblich moralischen und kulturellen Mission der Kolonisation und der Nachweis hervor, dass in ihr der Begriff des Profits eine wesentliche Rolle spielt?* Habe ich nicht immer wieder betont, dass zahlreiche Formen der Verarmung des Kolonisierten das nahezu unmittelbare Resultat der Vorteile sind, die der Kolonisator dort vorfindet? Sehen wir nicht auch heute noch, wie die Entkolonisierung in bestimmten Ländern deshalb so mühselig vor sich geht, weil der Ex-Kolonisator auf seine Privilegien nicht wirklich verzichtet hat und hinterlistig versucht, sie wiederzugewinnen? Aber das koloniale Privileg ist nicht ausschließlich wirtschaftlicher Natur. Wenn man das Leben von Kolonisator und Kolonisiertem betrachtet, so entdeckt man rasch, dass die tägliche Erniedrigung des Kolonisierten und seine objektive Vernichtung nicht allein ökonomischer Art sind. Der permanente Triumph des Kolonisators liegt nicht nur in der Ökonomie. Der kleine, der armselige Kolonisator hielt sich nichtsdestoweniger für etwas Höheres als der Kolonisierte, und in gewissem Sinne war er das auch wirklich – objektiv und nicht nur in seiner Phantasie. Und das machte ebenso einen Teil des kolonialen Privilegs aus. Die Marxsche Entdeckung von der Bedeutung der Ökonomie innerhalb jedes Unterdrückungsverhältnisses steht außer Frage. Aber dieses Verhältnis enthält noch andere Eigenschaften, die sich meiner Ansicht nach im Kolonialverhältnis auffinden lassen.
Aber, so wird man erneut einwenden, laufen all diese Erscheinungen in letzter Instanz nicht auf einen mehr oder weniger verborgenen ökonomischen Aspekt hinaus? Oder anders: ist der ökonomische Aspekt nicht der primäre Faktor, der Motor der Kolonisation? Möglicherweise, aber das ist noch nicht einmal sicher. Im Grunde genommen wissen wir überhaupt nicht, was der Mensch letztlich ist, was für ihn das Wesentliche ist, das Geld, der Sex oder der Stolz, ob die Psychoanalyse gegenüber dem Marxismus recht behält oder ob das von den einzelnen Individuen und Gesellschaften abhängt. Bevor ich hierüber zu dieser letzten Instanz gelangte, wollte ich jedenfalls die ganze Komplexität jener Wirklichkeit darstellen, die vom Kolonisierten wie vom Kolonisator gelebt wird. Weder die Psychoanalyse noch der Marxismus können unter dem Vorwand, die Triebkraft oder eine der grundlegenden Triebkräfte des menschlichen Verhaltens entdeckt zu haben, das gesamte menschliche Erleben, alle Gefühle, alles Leiden, alle verborgenen Ursprünge des Verhaltens einfach hinwegfegen, um darin lediglich das Profitstreben oder den Ödipuskomplex zu sehen.
Ich möchte noch ein Beispiel anführen, das wahrscheinlich gegen mich sprechen wird. (Aber so verstehe ich meine Rolle als Schriftsteller: sie kann sich sogar gegen meine eigene Person kehren.) Diesem Porträt des Kolonisierten, das nun einmal so sehr das meinige ist, geht ein Porträt des Kolonisators voraus. Wie kann ich es mir erlauben, mit einer derart bedrückenden Lebensgeschichte in gleicher Weise auch das Bild meines Gegners zu zeichnen? An dieser Stelle muss ich ein spätes Eingeständnis machen: in Wahrheit kannte ich den Kolonisator fast ebenso gut und aus dem Inneren heraus. Das muss ich erklären. Ich sagte bereits, dass ich Tunesier bin. Wie alle Tunesier wurde ich demnach als Bürger zweiter Klasse behandelt, bestimmter politischer Rechte beraubt, hatte keinen Zugang zu den meisten Verwaltungspositionen, war zweisprachig aufgewachsen, meine Ausbildung lag lange Zeit im Ungewissen usw…., man wird all das in meinem Porträt des Kolonisierten lesen. Aber ich war kein Moslem. In einem Land, in dem so viele Gruppen von Menschen nebeneinander lebten, aber jede ängstlich darauf bedacht war, ihre Eigenart zu wahren, hatte das eine wesentliche Bedeutung. Vereinfacht ausgedrückt können wir sagen, dass der Jude ebenso viel mit dem Kolonisator wie mit dem Kolonisierten gemeinsam hatte. War er einerseits unleugbar Eingeborener, wie man damals sagte, dem Moslem denkbar nahe durch das unerträgliche Elend seiner Armen, durch seine Muttersprache (meine eigene Mutter sprach in ihrem ganzen Leben kein Wort Französisch), durch Gemüt und Gebräuche, die Vorliebe für dieselbe Musik und dieselben Wohlgerüche und eine fast identische Küche, versuchte er andererseits, sich hingebungsvoll mit dem Franzosen zu identifizieren. Mit einer großen, schwungvollen Bewegung, die ihn zum Okzident hin entriss, der ihm als Inbegriff aller eigentlichen Zivilisation und Bildung erschien, kehrte er dem Orient leichten Herzens den Rücken, wählte unwiderruflich die französische Sprache, kleidete sich nach italienischer Mode und übernahm höchst bereitwillig sogar die Ticks der Europäer. (Womit er übrigens versuchte, einer der Ambitionen eines jeden Kolonisierten zu folgen, der sich noch nicht für die Revolte entschieden hat.) Noch besser – oder schlechter, wie man will –, in dieser Pyramide kleiner Tyrannen, wie ich sie zu beschreiben versucht habe und die das Gerippe jeder Kolonialgesellschaft darstellt, fand sich der Jude um genau einen Rang höher als sein mohammedanischer Mitbürger. Sein Privileg war lächerlich, aber es reichte aus, ihm einigen Dünkel zu verleihen und in ihm die Hoffnung zu wecken, er stehe nicht auf derselben Stufe wie die Masse der muselmanischen Kolonisierten, die die unterste Ebene der Pyramide bildeten. Es genügte zugleich, dass er sich seit dem Tag bedroht fühlte, an dem das Gebäude zum ersten Mal wankte. Man hat das recht gut bei den Barrikadenkämpfen in Algier beobachten können, wo zahlreiche Juden Seite an Seite mit den »Piedsnoirs«* ihre Schüsse abfeuerten. Nebenbei gesagt ist auch mein Verhältnis zu meinen Glaubensgenossen nicht gerade erleichtert worden, als ich mich entschlossen hatte, die Kolonisierten zu unterstützen. Kurz, wenn ich es auch für unumgänglich hielt, die Kolonisation anzuprangern, obwohl sie für die meisten weniger drückend gewesen ist, habe ich doch diese widersprüchlichen Regungen gekannt, die ihre Gemüter bewegten. Schlug denn nicht auch mein eigenes Herz beim Anblick der kleinen blau-weiß-roten Fahne auf den Schiffen der »Compagnie Générale Transatlantique«, die den Hafen von Tunis mit Marseille verband?
All dies, um zu sagen, dass dieses Porträt des Kolonisators zum Teil auch das meinige war; nehmen wir an, ein Bild in geometrischer Projektion. Insbesondere bei der Schilderung des wohlwollenden Kolonisators habe ich mich von einer Gruppe von Philosophiedozenten in Tunis anregen lassen, meinen Kollegen und Freunden, deren Großherzigkeit außer Zweifel steht, leider aber auch ihre Ohnmacht,