Alfons Söllner

ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft


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eine nachträgliche Konstruktion. Doch dass das Politische oder genauer: die Untrennbarkeit von historischer Erfahrung und politischer Reflexion die zentrale Lektion war, die sie daraus ableitete – dies soll im Folgenden in drei Schritten dokumentiert werden: Ausgangspunkt ist ein Versuch über das Exil in Paris, wie es sich für Hannah Arendt in den 1930er Jahren darstellte (Kap. I). Nach ihrer (zweiten) Flucht in die USA kommt es in den frühen 1940er Jahren zu einer ersten Reminiszenz, jedoch tritt der Frankreich-Komplex angesichts neuer historischer Herausforderungen wieder in den Hintergrund (Kap. II). Auch im Totalitarismus-Buch von 1951 scheint Frankreich zunächst nur subkutan präsent, es erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als das Modell, das der europäischen Geschichte Gestalt verleiht (III). Am Ende steht eine Spekulation, die der Historikerin Hannah Arendt eine theoriepolitische Perspektive ansinnt (Kap. IV).

       I.Pariser Exil 1933–1941: Spuren einer Politisierung

      Soviel wir über ihre Kindheit und Jugend wissen, wuchs Hannah Arendt wohlbehütet in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf, was frühe Brüche und Berührungen mit dem gesellschaftlich weit verbreiteten Antisemitismus nicht ausschloss. Ihr aufgeweckter oder sogar aufmüpfiger Charakter, wie er sich in der unkonventionellen Bildungsgeschichte ausdrückte, war sicherlich nicht nur der Reflex einer Verhaltensmaxime der Mutter: „Man darf sich nicht ducken! Man muss sich wehren!“3, sondern auch Resultat eines linken, sozialdemokratischen Milieus. Prägender für die junge Hannah Arendt dürften jedoch die bildungsbürgerlichen Ambitionen gewesen sein, wie sie sich z.B. in ihrer exzentrischen Studienkombination und besonders in der schwärmerischen Identifikation mit dem jungen Martin Heidegger manifestierten, auch wenn sie Marburg bald wieder verließ und schließlich bei Karl Jaspers in Heidelberg promovierte.4

      Diese „heile Welt“ erhielt jedoch rasch grausame Risse: persönlich durch die unglücklich verlaufende Liebesaffäre mit dem „heimlichen König des Denkens“, und sozial im Gefolge der Weimarer Staatskrise. Wie das nach der Doktorarbeit aufgegriffene Buchprojekt über Rahel Varnhagen eher für die Aussichtslosigkeit einer akademischen Karriere stand, so kann man ihren brieflichen Disput mit Karl Jaspers, der die „Größe“ Max Webers auf sein „deutsches Wesen“ zurückgeführt hatte, als einen ersten politischen Orientierungsversuch auffassen.5 Und so war es kein Zufall, dass sie schon vor 1933 Kontakte mit zionistischen Kreisen aufnahm, die sie konsequenterweise in Konflikt mit dem frisch etablierten Hitler-Regime brachten. Hannah Arendt wurde im Juli 1933 verhaftet, kam aber nach einer Woche wieder frei und flüchtete mit der Mutter über die „grüne Grenze“ nach Prag, von dort weiter über Genf nach Paris.

      Dass dieser Fluchtweg in die französische Hauptstadt führte, hing mit persönlichen Entscheidungen ebenso zusammen wie mit kulturellen Sympathien, die weniger für die politisch als für die „geistig“ Ambitionierten unter den Verfolgten der ersten Stunde typisch waren: Hatte schon Hannah Arendts Mutter in Paris ein paar Bildungsjahre verbracht, so erschien der assimilierten jüdischen Intelligenz die Metropole an der Seine als der Zufluchtsort, wo man einer ungewissen Zukunft noch die besten Seiten abzugewinnen hoffte. Die Mischung aus privaten Freundeszirkeln und intellektueller Halböffentlichkeit kennzeichnete wohl auch das Milieu, in dem Hannah Arendt sich in Paris bewegte, während politische Ideen und vor allem politische Befürchtungen zwar allpräsent, aber verbindlich nur so weit waren, als es die restriktiven Verhältnisse in einem Land erlaubten, das den Flüchtlingen – zumindest anfangs und solange ihre Zahl überschaubar war – noch gut gesonnen war. „Politisch“ war dieses Emigrantenmilieu vor allem in einem negativen Sinn: durch die Fixierung auf den einen und gemeinsamen „Feind“, d.h. auf Hitler und seine Bewegung und durch das Gefühl sich steigernder Ohnmacht, das hinter aller Exilpolitik lauerte, weil ihre Aktionen nur Deklarationen waren.

      Der Freundeskreis, in dem sich Hannah Arendt im Paris der 1930er Jahre bewegte, ist bekannt. Er bestand im Kern aus geflüchteten jüdischen Intellektuellen, wobei sich den älteren Bekanntschaften aus Berlin neue hinzugesellt hatten. In den spärlichen Briefen immer wieder genannt werden für die ersten Jahre neben engeren Verwandten und ihrem Ehemann Günther Stern alias Günther Anders: der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, der Psychoanalytiker Fritz Fraenkel, der Schriftsteller Chanan Klenbort und Walter Benjamin. Signifikant für diesen engeren Kreis dürfte auch gewesen sein, dass er großenteils aus jüngeren Leuten ohne Zutritt zur Schriftstellerprominenz und zur „großen“ Exilpolitik bestand, wie sie durch Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht oder Leopold Schwarzschild, d.h. durch einen repräsentativen Teil der linksbürgerlichen bzw. kommunistischen Intellektuellen der Weimarer Republik inszeniert wurde.6

      Falsch wäre allerdings, daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass Hannah Arendt sich in einem politisch-intellektuellen Niemandsland bewegte. Das Gegenteil ist anzunehmen und kann exemplarisch an zwei Männern demonstriert werden, die in der zweiten Hälfte der Pariser Jahre für sie in den Vordergrund traten: an Heinrich Blücher einerseits, später vor allem dadurch bekannt, dass er ihr zweiter Ehemann wurde, und an Walter Benjamin andererseits, posthum vielleicht die berühmteste Ikone des Pariser Exils überhaupt. Dass sich diese beiden Männer, der kommunistische Autodidakt und der führende Essayist der Zwischenkriegszeit miteinander befreunden konnten, war sicherlich nicht nur dem Kommunikationstalent einer flotten und blitzgescheiten jungen Frau geschuldet, sondern sagt etwas über die Lebensbedingungen in Frankreich, die in gewisser Weise für das Exil zu verallgemeinern sind.

      Weil der politische Raum mehr aus einem schwer greifbaren Fluidum als aus konkreten Organisations- und Handlungsmöglichkeiten bestand, gingen Privatheit und Öffentlichkeit unvermittelt ineinander über, waren isolierte, aber leidenschaftliche politische Überzeugungen ebenso wichtig wie die „offiziellen“ Verlautbarungen und Demonstrationen, wie sie z.B. Mitte der 30er Jahre in den spektakulären Kulturkongressen inszeniert wurden. So lautstark und europaweit hörbar der literarische Feldzug gegen Hitler auch war und so einig sich in der Epoche der Volksfront die kommunistischen Protagonisten und die linksbürgerlichen Intellektuellen auch zu fühlen schienen – tatsächlich hatten sie vor allem eines gemeinsam: Die Politik der Emigranten war und blieb reine Ideenpolitik. Dieser Makel lag wie ein Fluch über allen drei Fraktionen, die sich im Zirkel um Hannah Arendt überlagern mochten: dem politischen, dem literarischen und dem jüdischen Exil.7

      Man kann den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Heinrich Blücher als Beleg dafür nehmen, um diesen Vermutungen Substanz zu verleihen. Er setzt zwar erst im Sommer 1936 ein, hat aber den zusätzlichen Vorteil, am ganz Privaten, dem Beginn einer stürmischen Liebesbeziehung zu studieren, wie weit politische Aspirationen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Vergeblichkeit ins Denken und Handeln der Pariser Emigrantenszene hineinreichten. Während der Ältere von beiden auf eine kommunistische Vergangenheit zurückblicken konnte – Blücher hatte zum Kreis um Heinrich Brandler gehört, war mit diesem von der KPD ausgeschlossen worden und mauserte sich angesichts der Moskauer Prozesse gerade zum „Exkommunisten“ –, versuchte sich Hannah Arendt in der „jüdischen Politik“ zu orientieren. So mischt sich das romantische Spiel der neuen Leidenschaft mit dem Ernst der politischen Standortsuche, und, ob kokett gemeint oder nicht, der ehemalige „Berufsrevolutionär“ wird von ihr als Lehrer in Sachen Politik erkoren: „Stups der Kluge, Stups der Weise – quant à moi, je n’en comprends rien du tout, de la politique actuelle“8.

      Nicht weniger rührend liest es sich, wenn Heinrich Blücher die von Hannah Arendt gespielte Unterwerfungsgeste mit liebevoller Ironie erwidert, seinem „jüdischen Mädchen“ ein strenge politische Lektion erteilt und sich dabei in das theatralische Gewand eines „Wunder-Rabbis“ kleidet, der die „richtige Politik“ für die Juden kennt: Nicht im Ausweichen nach Palästina liege die Antwort auf den ansteigenden Antisemitismus, vielmehr müssten sich die Juden auf internationaler Ebene mit der Arbeiterklasse zum „nationalrevolutionären“ Befreiungskampf zusammenschließen: „Der Beruf aber ist, der den Juden seit ihren heroischen Zeiten immer gefehlt hat, der des Soldaten. Jetzt aber wird er ihr notwendiger Beruf, ihre Berufung zum Kämpfer. Wenn den jüdischen Kämpfern in solchem Kampfe, wo sie für uns in die Bresche springen werden, erst ein paar Mal begeistert von Arbeitern, Bauern und Kulis zugerufen worden ist: