zu kommen. Ich verbrachte dann diese Tage zu Hause im sicheren Bett und hoffte, die Krise würde bald wieder aufhören. Verschiedene Ängste, düstere Vorstellungen und Auflösungsgefühle tauchten auf und ich war mir manchmal nicht sicher, ob ich da wieder heil herauskommen würde.
Ich wusste aber: wenn es zu schlimm würde, könnte ich jederzeit meine beste Freundin anrufen, die im gleichen Haus wohnte und als Krisenberaterin arbeitete. Ich war finanziell und beruflich abgesichert, hatte von daher genügend Zeit zur Verfügung, mich frei von existentiellen Sorgen meinem Innenleben zu widmen. Mein Freund*innenkreis und das Netzwerk Stimmenhören waren an meiner Seite. Außerdem fanden die Krisen im therapeutischen Rahmen statt, ich konnte neue Ideen zu den Bedeutungen der finsteren Welten, die mir da erschienen, entwickeln und konnte sie in meinen therapeutischen Prozess einordnen. Äußerst günstige Rahmenbedingungen also, um an mir ›erfolgreich zu arbeiten‹. Auch verstand meine Therapeutin ihre Arbeit nicht darin, mich auf die kapitalistische Realität einzuschwingen, sondern sie war mir eine Stütze darin, mich möglichst selbstbestimmt und kraftvoll mit diesem System auseinandersetzen zu können.
Ich glaube, es wird deutlich, wie anmaßend und verletzend es ist, dieses ›erfolgreiche Arbeiten‹ von allen Menschen zu verlangen, und ihnen bei ausbleibendem ›Therapieerfolg‹ fehlende Motivation vorzuwerfen! Der Großteil der Bevölkerung ist nicht so privilegiert wie ich. Immer weiter verbreitete materielle Ängste, soziale Isolation, (Selbst-)Stigmatisierung, pathologische Erklärungsmodelle und der immerwährende Leistungsdruck sind das Gegenteil von hilfreichen Ressourcen zur Krisenbewältigung! Viel hilfreicher ist es, explizit anzuerkennen, wie entkräftigend und einengend diese Umstände sind und wie sehr sie außerhalb des individuellen Wirkungskreises liegen.
Versteckt hinterm Mantel der Professionalität?
Auf den verschiedenen Veranstaltungen der Stimmenhören-Bewegung19 fällt mir immer wieder auf, dass die Mehrheit der Expert*innen durch Beruf weiterhin an ihren Machtpositionen festhält, auch wenn wir davon reden, Hierarchien aufzulösen. Wir benutzen eine akademische Sprache und wir sprechen, so wie wir das gewöhnt sind, über unsere Klient*innen anstatt über uns selbst. Unsere jahrelangen Ausbildungen haben uns verinnerlichen lassen, dass Theorien gültiger sind als persönliche Geschichten. Und wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass wir davon auch profitieren, weil das unsere Machtposition festigt: wir sind auf der souveränen Seite. Wir wissen, was wahr und was falsch ist.
Aber gerade auf diesen Veranstaltungen geht es nicht darum, die professionelle Distanz zu wahren. Es geht darum, als Gemeinschaft zusammen zu kommen und uns gegenseitig dabei zu unterstützen, mit uns selbst besser klar zu kommen und auch das psychiatrische System zu verändern. So, wie es mir das vor vielen Jahren in der Trialoggruppe erging. Es ist ja so einfach, sich hinter dem Mantel der Professionalität zu verstecken, während wir die Expert*innen durch Erfahrung dazu auffordern, ihre intimsten Geschichten zu erzählen. Wie viel Lebendigkeit könnten wir zurückgewinnen, würden wir unseren Mantel nur ein bisschen öffnen und auch unsere Schwachpunkte mehr durchscheinen lassen? Wie oft haben wir uns schon gefragt, was eigentlich unser persönlicher Bezug zum sogenannten Wahnsinn ist? Warum wir uns ausgerechnet diesen Beruf ausgesucht haben? Geben wir es vor uns selbst zu, wenn wir unsicher oder ängstlich sind?
Hören wir auch ein bisschen Stimmen?
Wo sind wir selber ein bisschen merkwürdig oder spleenig, haben vielleicht bestimmte Ansichten, von denen wir denken, dass sie nicht von der Allgemeinheit geteilt werden? Meine Tante erzählte mir zum Beispiel vor ein paar Jahren, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter einige Male deren Stimme hörte, die vom Armsessel im Wohnzimmer her ihren Namen rief. Erst durch ein Gespräch mit mir übers Stimmenhören fiel ihr das wieder ein und ihr wurde deutlich, dass sie das vorher nie jemandem erzählt hatte, vor Angst, ihr würde sowieso niemand glauben. Religiöse oder spirituelle Menschen erzählen von Gesprächen mit Gott oder von Visionen, die sie geängstigt und/oder ihnen weitergeholfen haben, oder einfach davon, in manchen Situationen die Anwesenheit von bestimmten Energien zu spüren. Manche Menschen haben ähnliches unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen erlebt.
Ist das nun schon eine Gehirnstoffwechselerkrankung? Oder nur einer von vielfältigen Versuchen, die komplexe und widersprüchliche Welt, in der wir leben, zu begreifen?
Literatur- und Quellenverzeichnis
Kearney, Anne 2018: Counselling, Class and Politics: Undeclared influences in therapy. 2nd Edition by Gillian Proctor. Manchester.
Proctor, Gillian 2017: The Dynamics of Power in Counselling and Psychotherapy. Manchester.
Smail, David 2005: Power, Interest and Psychology. Elements of a social materialist understanding of distress. Monmouth.
Mit dem Rücken zur Wand – Eine Autoethnographie zum Unbehagen in meiner professionellen, psychiatrischen Identität
Robin Iltzsche
Ich habe so lange geschwiegen, da wird es jetzt aus mir brechen wie eine Sturzflut, und sie werden […] sagen, das ist so schrecklich, das kann nicht wirklich passiert sein, das ist so schrecklich, das kann nicht die Wahrheit sein! Und doch, bitte. Es fällt mir immer noch schwer, mit klarem Kopf darüber nachzudenken. Es ist jedoch die Wahrheit, auch wenn es gar nicht passiert ist. (Ken Kesey – Einer flog über das Kuckucksnest – 1995/1962: 14)
Prolog20
Schon als Kind wusste ich, dass die Irrenanstalt in Arnsdorf ein dunkler, unheimlicher Ort war. Wir machten Späße darüber, wenn sich ein*e Mitschüler*in ›verrückt‹ verhielt: »Der kommst doch aus Arnsdorf, oder?« Späße, die aus der Gemeinheit gespeist sind, die gerade auch Kindern eigen sein kann. Späße, die auch unsere eigenen Ängste vor dem Wahnsinn und der Psychiatrie überdeckten21.
Der Mythos um die Irrenanstalt und eigentlich die ganze verrückte Stadt Arnsdorf blieb der einzige, entfernte Orbit, in dem die Psychiatrie meine Jugend umkreist, bis eine Freundin von mir unter der Last ihrer Welt zusammenbricht, mir in langen Gesprächen, in denen sie übergangslos von Lachen zu Weinen wechselt, das Leid und die Widersprüchlichkeit ihrer Existenz vor Augen führt. Ihr wird später in Arnsdorf eine Borderline-Störung diagnostiziert, womit ich damals nichts anfangen kann, außer dass meine Mutter schluckt, als sie es hört, und meint, dass es also wirklich etwas Ernstes sei. Ich besuche sie in Arnsdorf und stelle fest, wie viel besser es ihr in der Klinik geht – sie wirkt zwar blasser und erschöpfter als vorher, aber wir können wieder ›normal‹ miteinander reden. Die psychiatrische Anstalt, die bis dahin allein eine Quelle von Horrorgeschichten und gemeinen Witzen war, scheint jetzt ein steriler, ruhiger und neutraler Ort zu sein, eine Zufluchtsstätte, ein Rückzugsort und Schutzraum für Menschen in Krisen. Die Klinik in Arnsdorf sieht in Wirklichkeit gar nicht so anders aus, als beispielsweise die Herzklinik in Dresden, die ich gut kenne, da dort nicht nur meine Mutter schon lange als Krankenschwester arbeitet, sondern ich mir auch mal als Hilfskraft ein paar Mark dazuverdiene.
Zugang
Einige Jahre später studiere ich Psychologie und wähle aus Mangel an besseren Alternativen immer wieder die klinische Ausrichtung. So folge ich eher unbewusst einem Pfad, der mich immer näher an das psychiatrische Krankenhaus bringt, von dem sich meine infantilen und existentiellen Ängste nie vollständig gelöst haben. Damit nähere ich mich auch gerade der Krankenhausmaschinerie, die meine Mutter so verflucht, da sie unter der bürokratisierten, hierarchisierten und auf Leistung und Gewinn getrimmten Praxis ihrer Klinik leidet. In der es nämlich schon lang nicht mehr ›um den Menschen geht‹, wie sie sagt. Aber durch eigenen Antrieb und äußere Umstände politisch radikalisiert und mehr und mehr gesellschaftstheoretisch informiert, wähle ich den Angriff nach vorn (der in seinem Schatten vielleicht eine andersgeartete Abwehr und Rationalisierung mit sich führt) und entschließe mich, bestärkt durch intelligente und bewundernswerte, zum Teil kritische und zum Teil keifende