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Gegendiagnose II


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und systematischer Gewalt. Statt gesellschaftliche Strukturen für krank zu erklären, die solche Gewalt ermöglichen, werden die Opfer pathologisiert und auf dieser Basis bevormundet und somit erneut zu Opfern gemacht. Auch Anne Roth und Clara Kern kritisieren den psychiatrisch_psychologischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, hier konkret in Form der »aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsgutachten«, welche den Anspruch erheben zwischen ›falscher/eingebildeter‹ und ›richtiger/wahrer‹ Vergewaltigungs- und Missbrauchserinnerung unterscheiden zu können. Die Autor_Innen weisen nach, wie diese Praktik zu einer Täter-Opfer-Umkehr beiträgt und gesellschaftliche Machtverhältnisse stabilisiert. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Beitrag von Anne Allex, welcher die immensen Folgen von psychologischen Gutachten durch den Ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur für Betroffene darlegt.

      Ein letztes Kapitel bildet auch diesmal wieder die »Kritik der Kritik« in welchem aktuelle linke und psych_kritische bis antipsychiatrische Diskurse und Praktiken zum Gegenstand gemacht werden. Das Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Michael Zander, der die Psychologisierung (linker) Politik kritisiert. Es folgt ein Artikel von Judith zu ihrem Erleben von allzu theoriegeleiteter linker Psychiatriekritik, die nicht an die realen Erfahrungen und Empfindungen Psychiatriebetroffener anschließen kann. resist_pathologization leistet im darauf folgenden Beitrag eine umfassende und fundierte Kritik am Konzept der Selbstbestimmung als Ziel emanzipatorischer Politik in Theorie und Praxis. Sehr freuen wir uns, als abschließenden und abrundenden Beitrag die erstmalige Übersetzung eines Textes der kanadischen antipsychiatrischen Wissenschaftlerin Bonnie Burstow präsentieren zu können. Mit dem von Clara Funk übersetzten Artikel zum »Zermürbungsmodell« endet der Band so mit einem selbstkritischen aber positiven Ausblick auf die Zukunft der emanzipativen, kritischen Umgangsweisen mit Psychologie und Psychiatrie.

      Danksagungen

      Zunächst einmal möchten wir uns bei all unseren Autor_Innen bedanken für die produktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit! Auch allen Leser_Innen des ersten Bandes, die für die Notwendigkeit einer zweiten Auflage gesorgt haben, danken wir hiermit – nicht zuletzt der große Erfolg des ersten Bandes hat zur Motivation für einen zweiten Band beigetragen. Auch die vielen Einladungen für Lesungen des Bandes, von Bremen bis Wien, und die hierbei geführten Diskussionen haben uns angetrieben, das Projekt weiter zu verfolgen. Trotz aller Kontroversen und letztlich getrennter Wege gilt der Dank auch Fabian Dion für die Initiierung der Gegendiagnose ›damals‹ 2014. Vor allem danken wir Willi Bischof und der edition assemblage für die Ermöglichung und Unterstützung des Projektes!

      Wir freuen uns über Kritik, Anregungen und Vorschläge für den dritten Band an

       [email protected]

       ›Irre‹, ›Krank‹ und ›Wahn‹ – eine (zu) kurze Einführung in die Psychiatriekritik 3

       Alex Steinweg

      Einleitung

      Innerhalb einer links-aktivistischen Szene scheint es in diskriminierenden Situationen einen Konsens über angemessene Handlungsweisen zu geben. Das Spektrum reicht davon eine von Abschiebung bedrohte Person zu verstecken, sexistischen und rassistischen Sprachgebrauch zu problematisieren und geht bis dahin Diskussionen über mögliche diskriminierende Lesarten einzelner Wörter, Kleidungsstile und Frisuren zu führen (vgl. u.a. Latton 2016: o.S.; Yaghoobifarah 2016a: o.S.; 2016b: o.S.).

      Aber wie sieht es mit einem Konsens darüber aus, eine Person zu verstecken und zu unterstützen, die zwangsbehandelt werden soll? Schnell heißt es, dass von außen nicht nachvollziehbares Verhalten ›krank‹ sei und die Betroffenen ›professionelle Hilfe‹ bräuchten. Aber wodurch legitimiert sich ›professionelle Hilfe‹ eigentlich? Und was bedeutet eigentlich ›krank(haft)‹? Schon die ›Alte Psychiatriekritik‹, eine Bewegung vor allem kritischer Wissenschaftler_Innen und vereinzelt auch praktizierender Psychiater_Innen in den 1960er Jahren, hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und es ist ihnen gelungen, eine emanzipative Kritik an vorherrschenden medizinisch geprägten Erklärungsmodellen zu formulieren (vgl. u.a. Basaglia: 1980; Chesler: 1977; Cooper: 1972; Dörner: 2001; Foucault: 1973; Laing: 1994; Schaps: 1982; Szasz: 1972) und ›psychische Krankheiten‹ als maßgeblich gesellschaftlich bedingt zu theoretisieren und damit zu entmystifizieren (vgl. Trotha, 2001 o.S.). Im Zuge dieser Bewegung begannen verschiedene Betroffenengruppen sich in Verbänden und Initiativen zu organisieren, eigene Kritiken zu formulieren und selbstbestimmte Unterstützungsstrukturen aufzubauen (die sogenannte »Neue Antipschiatrie« der 1980er Jahre) (vgl. ebd.).

      Ziel dieses Artikels ist es, eine kleine Einführung in die formulierten Kritiken dieser Bewegung zu geben. Dabei sollen weniger die einzelnen Akteur_Innen im Vordergrund stehen, sondern der Fokus auf einer Zusammenfassung der Theorien liegen. Diese Theorien – so sehr auch diese bei weitem nicht frei von Kritik sind (vgl. Dudek 2015: 313 ff.) – können helfen, menschliches Verhalten zu entmystifizieren, die Bedeutung subjektiven Empfindens und Deutens hervorzuheben und Lebenssituationen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu setzen. Dies stellt eine notwendige Grundlage eines emanzipatorischen Diskurses zur Unterstützung von Menschen dar.

      Abschließend leite ich aus den theoretischen Vorarbeiten Reflexionsmaßstäbe her, welche bei der Selbstreflexion helfen sollen, um bei sich selbst sowohl diskriminierende Denk- und Verhaltensmuster zu entdecken und zu verändern, als auch es einem_R zu erleichtern, sich für und in der Unterstützungsarbeit zu sensibilisieren.

      Ausgesuchte Aspekte der diskursiven Entwicklung des ›Wahnsinns‹4

      Eine der Grundfragen dieser Thematik ist, wie es im Laufe der Geschichte geschehen konnte, dass einige Verhaltensweisen überhaupt als ›krankhaft‹, ›wahnsinnig‹, ›irre‹ oder generell als ›abnormal‹ beschrieben wurden und werden. Wird die Geschichte des ›Wahnsinn‹ betrachtet, wird in erster Linie deutlich, dass je nach zeithistorischem Kontext unterschiedliches Verhalten als ›abnormal‹ angesehen worden ist. Dies verdeutlicht, dass es sich bei diesen Zuschreibungen um gesellschaftliche Konstruktionen handelt. Im Folgenden werde ich einzelne Aspekte der geschichtlichen Entwicklung beschreiben, die ich als diskursive Einflussfaktoren für das heutige Verständnis von ›Verrücktheit‹ hervorheben möchte.5

      Von Deutungskämpfen und dem Entstehen der ›Helfenden-Profession‹

      Im 17. Jahrhundert wurde der ›Wahnsinn‹ noch als eine von Gott gegebene Krankheit zur Bestrafung für Fehlverhalten gesehen (vgl. Foucault 1973: S. 22). Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Gedanken einer ›Heilung‹ der Person noch kaum eine Bedeutung zugesprochen. Stattdessen war es das vorrangige Ziel eine Isolation der Personen von der Gesellschaft zu erreichen (vgl. ebd.: S. 25 ff.). Im Laufe der Zeit machte die gesellschaftliche Bedeutung des ›Wahnsinn‹ verschiedene Veränderungen durch, welche stets von einer gewissen Doppeldeutigkeit geprägt waren (vgl. ebd.: S. 31).