fünf Jahre in dreizehn verschiedenen Konzentrations- und Flüchtlingslagern verbracht hatte, u. a. in Bergen-Belsen. Die zweite hatte Yehuda Sprung aus Krakau geworfen, achtunddreißig Jahre alt, Frau und zwei Kinder, zwölf Jahre in Degania, davor Jurastudent an der Krakauer Universität. Er ist ein schmaler, schüchterner Mann, der einem Schneider gleicht. Hochbaum ist ein kräftiger junger Bursche, der Yehudi Menuhin ähnelt. Keiner von beiden hatte jemals zuvor in seinem Leben einen Panzer gesehen.»
Persönliche Begegnungen wie die mit Hochbaum und Sprung ermöglichten es Koestler, den nahtlosen Übergang vom banalen Alltag des Konflikts zu unsterblicher Geschichte zu erkennen und seinen Lesern zu zeigen: «Für jemanden, der an seinem Frühstückstisch von den fernen Ereignissen in der Boulevardpresse las, hatte es den Anschein, als hätte die Weltgeschichte endlich den ambitioniertesten Traum von Metro-Goldwyn-Mayer erfüllt, in dem die Wüstensöhne in einem Heiligen Krieg gegen die auferstandenen Makkabäer in die Schlacht ziehen. In der Nahaufnahme, um in der Sprache des Kameramannes zu bleiben, entpuppte sich dieser Konflikt jedoch als ein Scheinkrieg, in welchem sich kleine, hoffnungslos dilettantische Banden levantinischer Söldner Scharmützel mit behelfsmäßig zusammengestellten Einheiten jüdischer Bürgerwehr lieferten, begleitet von viel Trara und Großtuerei auf beiden Seiten. Aber wenn man schließlich noch näher herantritt und die Szene in einem winzigen Landstrich in Zeitlupe zeigt, dann bleiben am Ende ein paar hundert Leute übrig. Leute wie Yehuda Sprung, Siedler von Degania, Frau und zwei Kinder, der, als er zum ersten Mal in seinem Leben einen echten Panzer in Aktion sah, nicht davonlief, sondern aus zehn Meter Entfernung eine Flasche nach ihm warf. Und so überschritt er in halb benommenem Zustand jenen Himmelsäquator, der die triviale von der historischen Sphäre trennt.»
Abgesehen vom journalistischen Können Arthur Koestlers macht noch ein ganz anderer Punkt dieses Buch besonders wertvoll, ja, eigentlich unersetzlich. Trotz der Nähe zu den Ereignissen bewahrte er stets die notwendige Distanz, um über den Tellerrand blicken zu können. Dem weitgereisten Koestler erschlossen sich so vor mehr als siebzig Jahren Einblicke, die selbst heute nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben, in ihrer Prägnanz fast prophetisch wirken.
Viele der innenpolitischen Konflikte, die Israel bis heute erschüttern, sagte Koestler schon zur Zeit der Staatsgründung voraus. Als der Direktor der Israelischen Zentralbank, Amit Yaron, Ende 2019 vor den Konsequenzen des rasanten Wachstums der ultraorthodoxen Bevölkerung warnte, hätte er Koestlers Prognosen aus den späten 1940er Jahren zitieren können. Yaron mahnte: «Wenn sich nichts an der demografischen Entwicklung ändert und der Anteil ultraorthodoxer Erwerbstätiger so niedrig bleibt, wie er heute ist, wird die Einkommensteuer um sechzehn Prozent angehoben werden müssen, um die Steuereinnahmen als Anteil am BIP zu erhalten.» Ultraorthodoxe bilden aufgrund ihrer schlechten Schulbildung Israels unterste soziale Schicht. Ihre Integration sei zu einer «wirtschaftlichen Notwendigkeit» für weiteres Wachstum und Wohlstand geworden, so Yaron. Hinter dieser Warnung steht die Befürchtung, dass es für Israel auf Dauer unmöglich werden könnte, eine Armee zu unterhalten, die seinen Nachbarn qualitativ überlegen ist. Die Integration der Ultraorthodoxen ist eine existenzielle Frage für Israel.
Und war es laut Koestler bereits im Jahr der Staatsgründung: Er sah schon damals Israels Entwicklung zur heute weltweit bekannten Hightechnation voraus. Nach einem Besuch im kurz zuvor eröffneten Weizmann-Institut in Rehovot schrieb er: «Die Forschungsabteilungen in Rehovot sind, an internationalen Standards gemessen, vermutlich die einzigen wirklich erstklassigen Einrichtungen im Land. Israels Zukunft wird bestimmt in diese Richtung gehen: innovative Industrieproduktionen durch kreative Methoden, […] Magie im industriellen Maßstab.» Zugleich hielt er an anderer Stelle fest: «Die religiösen Schulen, die laut den Zahlen der Bildungsabteilung von dreiundzwanzig Prozent aller Kinder zwischen vier und achtzehn Jahren besucht werden, machen ihre Schüler kaum tauglich für ein Leben im 20. Jahrhundert. Anders als in manchen weltlichen Schulen der katholischen Kirche in Westeuropa, die für eine solide Allgemeinbildung sorgten und mitunter hervorragend waren, stopfen die orthodoxen Seminare die Köpfe ihrer Schüler so voll mit mittelalterlicher Bibelauslegung, dass für andere Wissensbereiche kaum Platz bleibt.» Das klingt genau wie Yarons Warnung von 2019 – verfasst mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor.
Nicht nur Gesellschaft und Wirtschaft, auch die Politik analysierte Koestler messerscharf. So gelang es ihm schon damals, ein Phänomen zu erkennen, das Benjamin Netanjahu Jahrzehnte später dabei helfen sollte, der am längsten amtierende Premier in Israels Geschichte zu werden. In seiner Beschreibung der Revisionisten, der Vorläuferbewegung von Netanjahus Likud-Partei, hielt Koestler fest: «Ihre Führung bestand aus polnischen Intellektuellen, das Fußvolk waren ‹farbige Juden›, Jemeniten und Sepharden, auf die die blumige, chauvinistische Ausdrucksweise besonders anziehend wirkte. Diese orientalischen Juden würden eines Tages die Hälfte ihrer Stärke ausmachen, während die Führung fast ausschließlich aus jungen Intellektuellen bestand, die in der polnischen revolutionären Tradition aufgewachsen waren.» Unschwer sind hier die Wurzeln der Treue zu erkennen, die Israels Misrahim – die Nachkommen ebenjener «farbigen Juden» – dem aschkenasischen Netanjahu halten.
Doch Koestlers größte Leistung war wohl seine Fähigkeit, die eigentliche Bedeutung des israelisch-arabischen Konflikts trotz seiner persönlichen Befangen- und Betroffenheit zu erfassen. Seine Beobachtungen sind heute relevanter denn je. Angesichts des enormen Raums, den Politik und Medien dem Konflikt um Israel/Palästina weltweit einräumen, sind viele überrascht, wenn sie mit dessen wahrem Ausmaß konfrontiert werden: Israelis und Palästinenser ringen um ein Land von der Größe Hessens, mit einer Einwohnerzahl halb so groß wie der Kairos. Die wirtschaftliche Bedeutung des Konflikts ist gleich null, und selbst die Opferzahlen sind nach hundertvierzig Jahren Krieg zwischen Zionisten und Arabern so niedrig, dass er nicht einmal zu den Top 20 in der Liste der blutigsten Konflikte der Welt gehört. Warum also gebührt ihm überhaupt so viel Aufmerksamkeit?
Koestler gelang es, sich von religiösen, ideologischen oder ethnischen Scheuklappen zu befreien und die wahre Funktion des Heiligen Landes als globales Politbarometer auszumachen. Im hier nur teilweise zitierten Vorwort zur englischen Ausgabe bedient er sich dazu eines Zitats des französischen Physikers Pierre-Simon Laplace: «Wenn es uns möglich wäre, einen exakten Katalog aller Partikel und Kräfte anzulegen, die in einem Staubkörnchen aktiv sind, wären die Gesetze des gesamten Universums für uns kein Geheimnis mehr.» Richtig bemerkt Koestler daraufhin, der Staat Israel nehme «auf jedem mittelgroßen Schulglobus […] nicht viel mehr Platz als ein Staubkorn ein; und doch gibt es kaum ein politisches, soziales oder kulturelles Problem, dessen Prototyp man hier nicht vorfinden kann, und das in seltener Konzentration und Intensität». Für Laien wie Experten bietet dieses Buch eine einzigartige Gelegenheit, dieses Staubkorn besser verstehen zu lernen.
Tel Aviv, im Dezember 2019
ZUR EINFÜHRUNG
Arthur Koestler
Mitte der dreißiger Jahre stellte sich nicht mehr die Frage, ob der Zionismus eine gute Idee war oder eine schlechte, ob er wünschenswert sei oder nicht – 500 000 Juden in Palästina, das war keine politische Theorie mehr, sondern eine Tatsache. Die Juden besaßen einen zusammenhängenden Teil des Landes, und obwohl die Araber ihnen zahlenmäßig noch im Verhältnis zwei zu eins überlegen waren, hatten sie, was wirtschaftliche Stärke und soziale Errungenschaften betraf, bereits die führende Rolle in dieser unglückseligen Angelegenheit übernommen. Die Voraussetzungen für den späteren Staat Israel waren damit jedenfalls geschaffen.
Eine kurze Analyse dieser Voraussetzungen erscheint umso mehr angezeigt, als Israel praktisch der einzige existierende Staat ist, für den sämtliche Daten für eine solche Analyse niedergelegt und ohne Weiteres zugänglich sind.
So gut wie alle unabhängigen Staaten sind durch einen gewaltsamen und zum jeweiligen Zeitpunkt rechtswidrigen Umsturz entstanden, der nach einer Weile als vollendete Tatsache hingenommen wurde. Nirgendwo in der Geschichte – weder zur Zeit der Völkerwanderung noch bei der normannischen Eroberung Englands, weder im Holländischen Unabhängigkeitskrieg noch während der gewaltsamen Kolonisation Amerikas – finden wir das Beispiel eines Staates, der durch eine internationale Vereinbarung