II.
Meine Mutter hatte Angst. Und Thomapyrin. Sie vermied Streit. Streit machte ihr Angst und vor nichts hatte sie mehr Angst als vor der Angst. Sie war 16 Jahre alt, als die Deutschen Polen im Zweiten Weltkrieg angriffen und besetzten. Kurz danach erlebte sie dort, wie Hitlers Judenhass durch die deutschen Soldaten Realität wurde. Lebensgefährliche Realität. Gettos entstanden, Gewalt wurde zum Alltag, Gehorchen und Unsichtbarkeit zur Überlebenstaktik. Doch wie sollte man mit einem gelben Judenstern unsichtbar sein? Jede Konfrontation, jede Frage, jeder Widerspruch konnte tödlich sein. Leben hieß nur noch: überleben. Das Gefühl der Hilf- und Wertlosigkeit zementierte sich. Juden lebten in einem gewaltbesetzten, rechtsfreien Raum ohne Notausgang. Die Endstation hieß: Auschwitz. Meine Mutter überlebte mit meinem Vater und ihrer Mutter. Alle anderen ermordet. Vernichtet. Ohne Gräber.
Als ich meine Mutter kennenlernte, war diese Lebens- und Existenzangst fühl- und greifbar. Ich konnte sie als kleines Kind nicht einordnen, aber mir fielen ihre zitternden Hände auf. Ich erlebte ihre Harmoniesehnsucht. Oder sollte ich sagen: Sucht? Sie umarmte und küsste mich. Wann und wo immer es ging. Wenn wir Hand in Hand einkaufen gingen, blieb sie, nachdem sie alles eingepackt hatte, im Blumenladen, im Lebensmittelgeschäft, in der Apotheke, beim Fleischer, im Gemüseladen stehen und sprach mit all den Menschen. Sie machte ihnen Komplimente, lobte sie und erklärte regelmäßig, wie dankbar sie ihnen sei. Ich fragte mich damals: Wofür? Immerhin bezahlte sie ihre Einkäufe mit Geld. Wie ein Ritual wiederholte sie jeden Tag diesen Spaziergang durch unser Viertel. Riefen ihr Menschen hinterher: »Guten Tag, Frau Friedman! Wie geht es Ihnen, Frau Friedman?«, strahlte sie und ich spürte, wie die Verkrampfung ihrer großen Hand, die meine kleine Hand festhielt, nachließ. Als ich älter wurde, bemerkte ich, wie viel sie mit wie vielen Menschen telefonierte und ihnen zuhörte. Ihnen Rat gab. Am Abend nach dem Essen schrieb sie bis tief in die Nacht Briefe. Es mussten Hunderte Menschen gewesen sein, mit denen sie korrespondierte. Als ob sie versuchte, vorsorglich einen Schutzmantel zu weben, für den Fall, dass sie die Unmenschlichkeit wieder berühren sollte. Dort, wo es Streit gab zwischen Freunden, Konflikte oder Ehetrennungen, versuchte sie zu vermitteln, zu schlichten. Ihr Rat war meist, nachzugeben. In der Hoffnung, dass damit der Konflikt, der Streit verschwinden würde. Als könnte man dadurch das Problem, den Dissens wegzaubern. Streit bedeutete für sie eine Störung ihrer Sucht nach Harmonie, nach Ruhe und Frieden.
Nachts konnte sie nicht schlafen. Die Harmonie war im Dunkeln nicht herstellbar. Die vielen Fragen und vor allem die Frage nach dem Warum geisterten in ihrer Seele. Der Hass, den sie erlebt hatte, und die Frage nach dem Warum. Der gewaltsame Tod von vielen Menschen, nur weil sie Juden waren, den sie erlebt hatte, und die Frage nach dem Warum. Die Gleichgültigkeit der Handelnden und der Zuschauer und die Frage nach dem Warum. Das Nichtstillstehen der Welt, während Menschen in Auschwitz vergast und verbrannt wurden, und die Frage nach dem Warum. Der Verrat der Menschen an dem Menschsein und die Frage nach dem Warum.
Gleichzeitig wuchs ich in einem Land auf, in dem nichts so sehr versucht wurde, wie die Frage nach dem Warum individuell und kollektiv zu vermeiden und hinter dicke Mauern zu verbannen. In Deutschland wurde ein Band des Schweigens und des Verdrängens gespannt. Erinnerungen sollten gelöscht werden, das Gedächtnis umformatiert, eine »Stunde null« sollte eine Identitätsspaltung ermöglichen. Eine Weißwaschung und damit verbunden die Möglichkeit biografischer Legendenbildung. Ein Vorher sollte es nicht gegeben haben. Ich konnte die Pseudoharmonisierung der deutschen Gesellschaft und damit das Leugnen von Schuld und Verantwortung nicht hinnehmen, während ich zu Hause die blutigen Spuren des Verbrechens erlebte. Ich wollte den Streit aufnehmen und in den öffentlichen Raum stellen, den meine Mutter im Selbstgespräch, aber nicht im Gespräch mit den Konfliktbeteiligten geführt hatte. Die Frage nach dem Warum aktualisieren. Warum konnten die Menschen in den 50er-, 60er-, 70er-, 80er-, 90er-, 2000er-Jahren sich nur so zögerlich und abwehrend mit sich, ihren Familien und der Frage nach Schuld und Verantwortung auseinandersetzen? Und warum setzte sich der Hass fort? Und warum trieb dieser Hass nur die wenigsten zum Handeln? Während wir noch über die Zeitzeugen des Dritten Reichs verhandelten, wurden und sind wir Zeugen unserer Zeit des Versagens, die Würde des Menschen für alle Menschen herzustellen.
Humanismus und Aufklärung leben vom Streit. Von dem Suchen nach Antworten, dem Fragen und Hinterfragen. Dem Zweifeln. Diesem wunderbaren, hinterhältigen, zerfleischenden, erkenntnisreichen, unverzichtbaren Antrieb, dass Wissen, Reflektieren und Verstehen Momentaufnahmen sind – nur ein kurzes Momentum der Sehnsucht des Menschen, sich der Wahrheit anzunähern. Mehr zu begreifen, mehr zu lernen.
Meine Eltern ließen erstaunlicherweise zu, dass ich stritt. Mit ihnen und immer mehr und öfter mit vielen anderen. Mein Durst, meine Sehnsucht nach Wissen und Verstehen wuchs mit jedem Streit. Der Austausch von Gedanken und Argumenten ist der Sauerstoff des Lebens. Sich selbst und den anderen im Zweifel zu erleben und angezweifelt zu sein, sind die Voraussetzungen des Lernens.
Meine Mutter hatte Angst. Um mich. Je mehr ich stritt, desto mehr Angst. Aber sie ließ es zu. Erstaunlicherweise. Als ich älter wurde, verstand ich warum. Der Judenhass, der ihre Familie zerstört hatte, der Hass und die Hetze auf Menschen, war nicht wirklich weniger geworden. Dem nicht sprachlos gegenüberzustehen, einen anderen Entwurf von Gesellschaft und Menschenwürde zu entwickeln, und sei es nur für die eigene kleine persönliche Welt, war ohne Streit nicht erreichbar. Lebens- und Gesellschaftsentwürfe müssen miteinander und gegeneinander verhandelt werden. Immer und immer wieder. Der Streit ist das Instrument dazu. Dass er in Deutschland bis in die Gegenwart negativ besetzt ist, ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass das Schweigegebot, das nach 1945 die Diskursräume in Deutschland verstopfen sollte, immer noch viel zu wirksam ist. Das mag einer der Gründe sein, warum sich keine wirkliche Kultur des Streitens entwickeln und etablieren konnte. Die größte Sehnsucht war und ist bis heute noch, einen Sprühnebel des Konsenses über die vielen Dissense und Konflikte zu verteilen. Streit ist nicht erwünscht. Der Streitende ein potenzieller Störer der Scheinharmonie.
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