Offenheit bei der Repertoirewahl. Und sie ist ein Beispiel für die Produktivität des Jazz – eine Kunst, in der es eben nie um Allgemeingültigkeit geht, sondern immer nur darum, was just in diesem Moment, in dieser klanglichen Umgebung, mit diesen Musikerkollegen und vor diesem Publikum wahr ist. In der Musik könne man nicht posieren, sagte Armstrong einmal, man könne sich nicht verstellen. Deshalb mag man vielleicht das hehre Heldendenkmal Armstrong hinterfragen, wie man dieser Tage Denkmälern ganz allgemein reservierter gegenübersteht. Es zu stürzen aber ist unmöglich, denn es entsteht jedes Mal neu vor uns, wenn wir bewusst in seine Musik hineinhören.
Nur wenige andere Jazzmusiker haben einen ähnlichen Status erreicht: Duke Ellington vielleicht, Charlie Parker, Miles Davis und John Coltrane – aber das war es dann auch schon. Armstrongs Kunst hat, wenn überhaupt, ein wenig darunter gelitten, dass insbesondere die All-Star-Besetzungen, mit denen er ab Mitte der 1940er Jahre meist auftrat, ihn als Musterbeispiel eines angejahrten und etwas post-authentischen Dixieland abstempelten und dass viele Jazzfreunde, die moderneren Stilen zugetan waren, ihn daher vielleicht noch als Relikt alter Zeiten und als Jazzlegende akzeptierten, die Kreativität aber nicht mehr würdigen konnten oder wollten, die er bis an sein Lebensende in seine Musik legen konnte. Er selbst hatte mit dem Aufkommen des Bebop seine Probleme, die neueren Entwicklungen des Jazz in einer Linie mit dem zu sehen, was ihm die ewigen Werte des Jazz waren: swing, Melodik, eine harmonische Komplexität, die dennoch immer noch in direkter Beziehung zu den harmonischen Wurzeln der interpretierten Stücke stand, Sanglichkeit, Tanzbarkeit, Lebensfreude. Vielleicht war seine Entscheidung, mit den All Stars zurück zu seinen eigenen stilistischen Wurzeln zu gehen, auch eine ganz bewusste. Die Entwicklung zu Swing und Bigband-Jazz hatte er in den 1930er Jahren ja noch mitgemacht, aber der Umbruch der 1940er – da hieß es Paroli bieten, die eigenen ästhetischen Wertvorstellungen nicht nur in Interviews hochzuhalten, sondern in seiner Musik eine Alternative hören zu lassen.
Aber davon später. Armstrongs Geschichte beginnt in New Orleans, der Geburtsstadt des Jazz, und Armstrongs Biographie ist eng mit dieser Stadt im Mississippi-Delta verbunden, auch wenn er mit dreiundzwanzig Jahren aus ihr wegzog und bis an sein Lebensende anderswo leben sollte, erst in Chicago, dann in New York.
Kapitel 1
»Basin Street Blues«
Kindheit und Jugend in New Orleans (1901–1922)
New Orleans
New Orleans um die Jahrhundertwende war eine musikalische Stadt. Man muss sich die akustischen Verhältnisse des French Quarter, jener spanisch und französisch geprägten Altstadt der Mississippi-Metropole, vor Augen halten, um zu verstehen, was mit dem Schmelztiegel der Kulturen gemeint ist, von dem auch in Jazzbüchern immer wieder die Rede ist. Subtropisches Klima, Häuser mit kühlenden Innenhöfen, eine enorm gut tragende Akustik und eine bunte ethnische Vielfalt der Bewohner. New Orleans war eine Stadt der Sinnesfreude. Und das Rotlichtviertel Storyville, in dem etliche Musiker Arbeit fanden, gehörte mit zu den bekanntesten Sündenmeilen der Welt. Noch heute kann man im French Quarter Klänge über ganze Häuserblocks hinweg hören, Gesang, Trommeln, die Calliope, also die Dampforgel der Mississippi-Dampfer, Straßenmusiker oder einfach nur den Straßenlärm – all dies vermischt zu einem Klangbrei, in dem das Schlagwort des Melting Pot, also des kulturellen Schmelztiegels, akustisch erfahrbar wird.
Der Staat Louisiana war 1682 vom Entdecker Robert Cavelier de La Salle zu französischem Gebiet erklärt worden. Die Stadt New Orleans wurde 1717 als Nouvelle-Orléans vom Schotten John Law gegründet, der der französischen Regierung eng verbunden war. Lange Jahre war Louisiana und seine Hafenstadt New Orleans für Frankreich das, was später Australien für die Briten war: eine Strafkolonie, in die die französische Gerichtsbarkeit Verbrecher und unliebsame Gesellen expedierte. Die Einwohner der Stadt allerdings rebellierten gegen den Zustrom von »Deserteuren, Schmugglern und anderen zwielichtigen Gestalten«. Agenten zogen durch Europa und überredeten Franzosen und vor allem auch Deutsche zur Übersiedlung auf den neuen Kontinent. Im 18. Jahrhundert kamen so fast 10 000 Deutsche nach New Orleans. Die Bevölkerung der Stadt am Mississippi-Delta setzte sich also zusammen aus ernsthaften Siedlern, ausgemusterten französischen Soldaten, amerikanischen Ureinwohnern, früheren Insassen französischer Anstalten und Gefängnisse sowie Prostituierten, die 1721 aus Paris zur Strafe nach New Orleans verschifft worden waren. Die Bevölkerung nahm ständig zu; zu den schon erwähnten Einwanderern kamen auch afrikanische Sklaven – damals noch meist Afrikaner der ersten Generation. Im Verlauf des Siebenjährigen Krieges fiel Louisiana an Spanien – was die Einwohner von New Orleans allerdings erst zwanzig Monate später erfuhren. 1788 wurden große Teile der Stadt bei einem Feuer vernichtet; der Wiederaufbau führte zu dem noch heute erhaltenen Stadtbild mit vielen spanisch beeinflussten Architekturteilen. Im Jahr 1800 gab Spanien Louisiana wieder an Frankreich zurück. Napoleon Bonaparte, der öffentlich bekannt gab, er werde nie wieder von diesem Landstrich in Amerika lassen, verkaufte den Staat schon drei Jahre später für 60 Millionen Francs an Thomas Jefferson, den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Neue Einwanderer aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, Irland und anderswo brachten ihre eigene Kultur mit und pflegten deren Traditionen auch in New Orleans. Diese kulturelle Vielfalt ist ursprünglich gemeint, wenn man von New Orleans als dem Schmelztiegel spricht, aus dem später der Jazz entstand. Die Stadt besaß das erste feste Opernhaus der Vereinigten Staaten und war im 19. Jahrhundert bekannt für die besten und modernsten Opernaufführungen Amerikas, vergleichbar mit dem Programm der großen europäischen Häuser. Beauftragte der Oper reisten regelmäßig nach Paris, um Musiker zu engagieren, Sänger für ein Engagement nach New Orleans zu holen oder neue Opernproduktionen zu akquirieren. All das hatte durchaus direkten Einfluss auf den späteren Jazz, da viele junge Musiker der Stadt ihren Instrumentalunterricht beispielsweise bei französischen Klarinettisten oder deutschen Klavierlehrern erhielten, Musiklehrern übrigens, die oft – da sie aus dem »gesitteten« Europa stammten – die strengen Regeln der Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß nicht gar so ernst nahmen wie dies in Amerika Usus war.3
Auch Louis Armstrong, so viel sei schon hier angemerkt, war ein Fan der Oper. In einem Interview mit dem Historiker Richard Meryman erzählte er 1966, wie er in seiner Jugend neben frühen Jazzplatten (der Original Dixieland Jazz Band beispielsweise) Platten von Enrico Caruso, Amelita Galli-Curci und Luisa Tetrazzini hörte4 – Platten, die sich nach seinem Tod in seiner Sammlung fanden.5
New Orleans ist eine Hafenstadt und war damit ein Hauptumschlagplatz für die Sklavenschiffe, die von Westafrika aus den Neuen Kontinent anfuhren. Für das Leben der Sklaven wurden spezielle Regeln aufgestellt, die von den französischen Kolonialherren in Louisiana als Code Noir (Black Codes) seit 1724 festgeschrieben waren und auf einem Edikt basierten, das Louis XIV. bereits 1685 erlassen hatte, um das Leben und den Handel mit Sklaven zu reglementieren. So durften die Sklaven beispielsweise keine Religion außer der römisch-katholischen ausüben, sie durften keine Waffen und nicht einmal einen größeren Stock tragen, sie durften sich nicht ohne Anwesenheit mindestens eines Weißen versammeln. Diese Gesetze sollten zuvorderst das Verhältnis zwischen weißen Herren und schwarzen Sklaven klären und jegliches Verlangen der Schwarzen nach Freiheit unterbinden. Sie verboten darüber hinaus Mischehen, was allerdings nicht verhinderte, dass es sehr bald Kinder aus gemischten Verhältnissen gab. Für diese wurde vor allem von den Schwarzen der Begriff »Creole« benutzt, der zuvor von den Weißen nur für Kinder aus französisch-spanischen Mischehen verwandt worden war. Die Verwirrung hält bis heute an: In Louisiana stand die Bezeichnung lange Zeit für jeden, der im französisch kolonialisierten Louisiana geboren war, bevor es Teil der Vereinigten Staaten wurde. Meist wurde das Wort allerdings zur Bezeichnung von Kindern mit einem weißen und einem schwarzen Elternteil gebraucht – mit französischem oder spanischem Background. Von der Wortherkunft her stammt creole übrigens vom portugiesischen crioulo oder dem spanischen criollo, die beide einen Schwarzen (Sklaven) bezeichnen, der in seines Herrn (und oft Vaters) Haus geboren wurde.
Vor allem die freien Schwarzen in New Orleans nannten sich selbst »créoles de couleur«. 1861 lebten in 13 000 schwarze Sklaven in der Stadt und immerhin 11 000 freie »gens de couleur« oder »Persons of Color« – die sich übrigens sehr bewusst von den anderen