Heike M. Major

Tambara und das Geheimnis von Kreta


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gegangen. Auch ernsthaft interessierte Bürger fanden im Net kaum noch Informationen, denn Themen dieser Art konnten weder die Konsumfreude steigern noch einen Beitrag zur Produktverbesserung leisten. Wer es dennoch versuchte, wurde selten fündig. Man kannte sich einfach nicht mehr aus. Erst als einige Bürger anfingen, Auszüge aus eigenen privaten Büchern ins Net zu stellen, entdeckten auch andere Städter verborgene Schätze aus alten Erbschaften und stellten diese ebenfalls der Allgemeinheit zur Verfügung. Die Regierung, die fürchtete, die neuen Informationen könnten Unruhe stiften und den Bürgern wertvolle Energie rauben, die doch besser der Wirtschaft zugutekommen sollte, fing an, die Seiten zu löschen. Wer dem Müßiggang frönte, stundenlang in der Sonne spazieren ging oder auf einer Bank im (mit Kunststoffbäumen bestückten) Park über Gott und die Welt nachdachte, konnte weder einkaufen noch produzieren. Mittlerweile hatten sich die Behörden aufgrund des öffentlichen Drucks zwar zu einer Öffnung entschlossen, doch wollte man sicherheitshalber erst nur einige wenige Projekte realisieren und abwarten, wie die Bevölkerung mit der neu gewonnenen Freiheit umging.

      Soul redete auf ihren Computer ein.

      „Kreta – Vergangenheit …, löschen, Kreta – Insel – Altertum …, löschen …“

      Die Seiten, die es über die Insel gab, waren hauptsächlich neueren Datums und beschrieben das aktuelle Projekt, doch wenn es um Themen aus der Vergangenheit ging, hatte die Maschine keine Antworten parat. Obwohl der Medienkonzern regelmäßig mit der Regierung kommunizierte und um eine Freigabe der alten Datenbanken bat, sträubten sich die Behörden weiterhin gegen eine umfassende Informationspolitik.

      „Zu gefährlich, Wirkung nicht absehbar“, hieß es immer wieder.

      Die Bewohner der Stadt Tambara, die in einer perfekten, fest gefügten Kunststoffwelt aufgewachsen waren, in einer Welt, in der es keine Entwicklung gab ohne den Eingriff des Menschen, kämen mit dieser sich eigenständig entwickelnden Natur nicht zurecht, fürchteten die Behörden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Unkenntnis oder falscher Einschätzung des Natürlichen in irgendwelche Gefahren hineinstolperten, war schlichtweg zu groß. Diesem Argument konnte der Medienkonzern nichts entgegensetzen, und so blieb es vorerst bei der begrenzten Datenfreigabe.

      Ebenso verhalten ging man bei der Auswahl der Freiwilligen für das Kreta-Projekt vor. Wer eine Erlaubnis erhielt, musste sich im Vorfeld einer intensiven Schulung unterziehen. In wochenlangen Kursen lernten die Teilnehmer über Erde, Wiese und unregelmäßige Pflastersteine zu gehen, keine Angst vor harmlosen Tieren zu haben, wertvolle Pflanzen von bloßem Unkraut zu unterscheiden und dornenbestückte Rosen mit bloßen Händen anzufassen. Auch Reb hatte sich solch einer Prozedur unterziehen müssen, und Soul war die Teilnahme an diesem Seminar wegen der anfangs noch geringen Nachfrage zwar erlaubt worden – vielleicht hatte auch Sir W.I.T. wieder seine Beziehungen spielen lassen –, aber eine Reisegenehmigung blieb ihr vorerst verwehrt.

      „Kreta – Natur – früher …“, versuchte Soul ihr Glück noch einmal.

      „Keine Ergebnisse gefunden“, bestätigte der Computer.

      „Meine Güte, du dummes Ding“, schimpfte sie, „hast du nicht endlich mal etwas Brauchbares anzubieten?“

      „Güte – dummes Ding – Brauchbares“, suchte der Computer.

      „Ach, du hast mich nicht verstanden“, ärgerte sich Soul.

      „Nicht verstanden – möchten Sie eine Übersetzung?“, fragte die Maschine.

      „Nein, es ist ja doch nutzlos“, fluchte Soul und wollte gerade den Befehl zum Abschalten geben, als auf dem Monitor Artikel zu dem Wort „nutzlos“ erschienen.

      „Meinten Sie ‚nutzlos‘ oder ‚von Nutzen‘?“, suchte der Computer nach einer Ergänzung. „‚Nutzlos‘ ist ein äußerst seltener Begriff. Wir bevorzugen Aktionen, die für uns ‚von Nutzen‘ sind.“

      „Du vielleicht“, stöhnte Soul entnervt.

      „Möchten Sie eine der Dateien öffnen?“, wollte der Computer wissen.

      „Ja, mein Gott, öffnen – die oberste“, befahl sie.

      „Besonders groß war der Protest in der Stadt Tambara …“

      Soul schoss das Blut in die Adern, als sie den Artikel durchlas.

      „… Die Forschungsergebnisse wurden als nicht förderungswürdig eingestuft, weil sie der Wirtschaft keinen Nutzen brachten. Nachdem er von sämtlichen Konzernen der Stadt abgewiesen worden war – immer hieß es: ‚nicht von Interesse, vergangen, nicht zeitgemäß, nutzlos, unproduktiv, gefährlich‘ –, zog sich der junge Mann enttäuscht auf seine Heimatinsel Kreta zurück, wo er fortan ein bescheidenes, zurückgezogenes Leben führte.“

      Soul suchte das Einstelldatum. Die Seite war ungefähr hundert Jahre alt. In einer Zeit der allumfassenden medizinischen Vorsorge, des synthetischen Blutes und nachwachsender Labororgane konnte es gut sein, dass dieser Wissenschaftler noch lebte. Merkwürdig, dass solch eine Seite nicht vollständig gelöscht worden war. Aber vielleicht sollten die Bürger hier ja auch aus erster Hand erfahren, dass die Beschäftigung mit dieser speziellen Art von Thematik zu absolut nichts führte.

      Soul schob den Stuhl zurück, indem sie sich mit den Zehen vom Schreibtisch abstieß, ließ ihren Fuß gleich oben auf der Tischplatte liegen und platzierte den zweiten darüber. Sie lehnte sich zurück und ließ die Arme über die Rückenlehne nach unten baumeln. So saß sie eine ganze Weile. Dann setzte sie sich plötzlich auf.

      „Uninteressant“, höhnte sie, „das werden wir ja sehen. Es sollte sich doch herausfinden lassen, um welche Forschungsergebnisse es sich handelte.“

      Sie schickte die Seite ihrem Bruder auf sein Technikarmband.

       4

      „Computer – on“, befahl Reb, und der Spiegel über seinem Schreibtisch verwandelte sich in eine respektable Computerwand. Das Hotel, das der Medienkonzern für ihn ausgesucht hatte, war mit modernster Technik ausgerüstet und somit für seine Arbeit bestens geeignet. Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ihm eine Angestellte aufs Zimmer gebracht hatte, und überspielte Souls Seite von seinem Armband auf den Spiegel. Anschließend gab er den Freundschaftscode ein, sodass die Hotelwand mit den Computern zu Hause und allen ihm angeschlossenen Technikarmbändern kommunizieren konnte. So hatten er, seine Schwester und die Freunde Mortues und Botoja Zugriff auf dieselben Quellen, ohne diese jedes Mal einzeln übersenden zu müssen.

      Das weltweite Netzwerk hielt auch für ihn keine brauchbaren Informationen bereit. Er versuchte, die Inselbibliothek zu befragen, doch schon bei den ersten Stichwörtern streikte die Maschine.

      „No permission“, tönte es aus dem Spiegel.

      Reb stellte den Ton ab für den Fall, dass jemand zufällig draußen vor der Tür vorbeiginge, und öffnete eine spezielle Datei seines Computerarmbandes. Der mächtige Sir W.I.T. höchstpersönlich hatte ihm einen digitalen Dietrich zur Verfügung gestellt, einen Code, mit dem er sich in verschlüsselte Dateien einklinken konnte und der ihm bei seinen Recherchen schon oft sehr nützlich gewesen war. Reb hatte dem mächtigen Mann freilich versprechen müssen, diesen geheimen Schlüssel nur nach reiflicher Überlegung und äußerst sparsam zu verwenden. Er musste seine Entscheidungen schon mit Bedacht treffen, denn Sir W.I.T. hatte nicht nur überall seine Hand im Spiel, sondern würde auch, davon war Reb überzeugt, ohne zu zögern auf sein Technikarmband zugreifen und die Funktion wieder sperren, falls ihm irgendetwas nicht passte. Gegen einen kurzen orientierenden Blick in die Inselbibliothek aber, so fand er, dürfte auch der Erfinder des Tambara-Apfels nichts einzuwenden haben.

      Reb brauchte nicht lange zu suchen. In Nullkommanichts hatte sein Armband mithilfe des Dietrichs den Zugang zur Inselbibliothek geknackt. Er gab Souls Informationen ein und befahl, ähnliche Seiten zu suchen. Direkt vor seiner Kaffeetasse erschien das Wort „Kreta“.

      Reb schob die Tasse zur Seite und las: „… er schien etwas entdeckt zu haben, das weder den Behörden noch den Unternehmen so richtig schmeckte. Sie lobten den jungen