der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“32 Ebenso streng inkarnatorisch bestimmt er das Sein Gottes: „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“33 Hierin unterscheidet sich für Bonhoeffer die christliche Rede von Gott und der Welt grundsätzlich von allen anderen Religionen. Das hat Konsequenzen für seine Bestimmung von Christsein: Ein Mensch wird Christ, indem er teilnimmt am Leiden Gottes im weltlichen Leben.34 Nur so erfährt er, dass Gott ihm gerade als der Ohnmächtige, als der Gekreuzigte hilft. Das Gedicht „Christen und Heiden“ bringt diesen Doppelakt in der zweiten und dritten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:
2. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
3. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.35
Hinter der Forderung einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe steckt ein zutiefst missionarisches Motiv: Bonhoeffer will dazu beitragen, dass Menschen berufen werden, das Wort Gottes wieder so auszusprechen, dass sich die säkulare, autonome Welt darunter verändert und erneuert.36 Es geht letztlich um die Erneuerung der christlichen Predigt, „die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“.37 Im Augenblick schwerster Bedrohung des christlichen Glaubens durch den Nazi-Staat sucht Bonhoeffer nach einer Gestalt des christlichen Glaubens, die dieser Herausforderung gerecht wird.
Auf dem Weg dahin regt Bonhoeffer als flankierende Maßnahme die Erneuerung der altkirchlichen Arkandisziplin an, nach der bestimmte Wahrheiten des christlichen Glaubens nicht der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern den Christen vorbehalten sind. Das Stichwort kommt in den Gefängnisbriefen der Sache nach dreimal vor,38 wobei die zweite Stelle besonders aufschlussreich ist. Darum soll sie hier im Zusammenhang zitiert werden: „Barth hat als erster Theologe – und das bleibt sein ganz großes Verdienst – die Kritik der Religion begonnen, aber er hat an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: ‚friss Vogel, oder stirb’; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muss oder gar nicht. Das ist nicht biblisch. Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h., es muss eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung behütet werden. Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er letztlich ein Gesetz des Glaubens aufrichtet und indem er das, was eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! –, zerreißt. An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch –, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich selbst gestellt und sich selbst überlassen, und das ist der Fehler.“39 Barths offenbarungspositivistische Lösung erscheint Bonhoeffer verfehlt, weil sie den wesentlich missionarischen, d. h. dem Menschen zugewandten Charakter der christlichen Botschaft nicht angemessen berücksichtigt. Bonhoeffer begründet seinen Vorschlag, die Arkandisziplin zu erneuern, mit biblischen Aussagen, nach denen es „Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit“ gibt (vgl. etwa Hebr 5,14). Es gibt Geheimnisse des christlichen Glaubens, die nicht ohne Weiteres jedem zugänglich sind.
Bethge interpretiert die Überlegungen Bonhoeffers wie folgt: „Diese ‚Geheimnisse‘ sind schöpferische Vorgänge des Heiligen Geistes. Sie werden jedoch zu ‚religiösen‘ Objekten, zum ‚Offenbarungspositivismus‘, wenn sie unmotiviert angeboten, aufgezwungen und billig verschleudert werden. Bonhoeffer kann auch von einer Unterscheidungsverantwortung der Kirche nach Zeit und Gegenüber sprechen, indem sie ‚Stufen der Bedeutsamkeit‘ beachtet. Man wird sogar von der anderen Seite her argumentieren dürfen: Die Arkandisziplin schützt ebenso die Welt vor einer Vergewaltigung durch die Religion. So erhält die Arkandisziplin eine wichtige Funktion, das nichtreligiöse Interpretieren vor dem Rückfall in das Religiöse zu bewahren.“40 Mit der Forderung eines Arkanums wird die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe vor dem Missverständnis platter Verweltlichung des Glaubens bewahrt. Bonhoeffers eigene Frömmigkeitspraxis während der Haft bis unmittelbar vor seiner Ermordung ist hierfür ein deutliches Indiz. Andererseits schützt die Arkandisziplin die Welt vor religiöser Vereinnahmung. In seiner großen Bonhoeffer-Biografie formuliert Bethge prägnant: „Arkandisziplin ohne Weltlichkeit ist Getto, und Weltlichkeit ohne Arkandisziplin ist nur noch Boulevard.“41
Bonhoeffer wollte die Radikalität der biblischen Aussagen über Jesus Christus in der Situation einer säkularisierten Gesellschaft neu zu Gehör bringen. Es ging ihm dabei um viel „mehr“ als Rudolf Bultmann, der mit seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments dessen theologische Aussagen dem modernen Zeitgenossen verträglich machen wollte. Für Bonhoeffer war die Neuinterpretation primär ein inhaltlich-theologisches Problem. Er dachte ontologisch-sozial: Die Frage war für ihn, wie der lebendige Gott in Kirche und Gesellschaft erkannt und geehrt werden kann. Für Bultmann, der individual-existenzialistisch dachte, handelte es sich bei der Neuinterpretation um eine primär hermeneutische Aufgabe: Wie kann der moderne Mensch mit den überholten biblischen Vorstellungsmustern versöhnt werden? Weil Bonhoeffer vom gegenwärtig wirkenden Gott ausgeht, ist seine Fragestellung gerade angesichts heute zu beobachtender Wiederkehr der Religiosität hochaktuell.42
Bedeutung für heute
Bonhoeffer wagte es, sich selbst und anderen unbequeme Fragen zu stellen. Er wollte ehrlich fragen und konstatieren, „was man selbst eigentlich glaubt“.43 Nur vom Boden der Redlichkeit sich selbst gegenüber44 war für ihn ein echter Neuansatz christlicher Existenz angesichts einer „mündig gewordenen Welt“45 denkbar. Er übernahm Verantwortung für Kirche und Gesellschaft unter dem Motto: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen.“46 Bonhoeffer nahm ein bleibendes Anliegen des theologischen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert auf, indem er Theologie und Kirche auftrug, die modernen Infragestellungen des Glaubens ernst zu nehmen: „Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“47
In dem Kampf gegen kirchlich-fromme Sterilität und Phrase liegt ein Grund für die ungebrochene Aktualität von Bonhoeffers Gedanken. In der Kirche sollen Echtheit und Aufrichtigkeit herrschen.48 Sein Suchen und Sehnen ging nach einer Weise, „das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden […].“49 Bonhoeffer wusste, dass er selbst die neue Sprache, die er suchte, noch nicht gefunden hatte: „Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“50 Auch diese Aussage hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Bis heute hat die Gemeinde Jesu Christi noch nicht das Wort für eine fortschreitend entkirchlichte und säkularisierte Gesellschaft gefunden, das sie in der Breite aufhorchen ließe.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer regt heutige Menschen schließlich auch deswegen zum Nachdenken an, weil bei ihm „Denkakt und Lebensakt“, Theologie und Biografie, untrennbar verknüpft waren.51