lebendiges und aktives Wort ist, zum Ausdruck bringt und wirksam macht.
Die anderen Gründe dafür, die Textpredigt zum Normalfall in der Gemeinde zu machen, sind mehr praktischer Art, aber deswegen nicht weniger wichtig. Der erste ist, dass eine sorgfältige Auslegungspredigt es den Hörern leichter macht, zu erkennen, dass die Autorität nicht in den Meinungen oder Gedankengängen des Predigers liegt, sondern in Gott selber und seiner Offenbarung in diesem Text. Dies wird nicht sehr klar in Predigten, die den biblischen Text nur oberflächlich abhandeln und sich vor allem in Geschichten, langen Argumentationen oder Gedankenspielen ergehen. Hier kann der Zuhörer sich leicht dem Zugriff unbequemer Textaussagen entziehen, indem er sich sagt: „Na ja, so siehst du das halt …“ Eine solide, klare Auslegung bemüht sich, zu zeigen, was der Text bedeutet – und zeigt damit, dass das, was der Prediger sagt, nicht auf seinem eigenen Gedankenmist gewachsen ist, sondern sich aus diesem autoritativen Text ergibt.
Die Textpredigt bedeutet weiter, dass ich Gott selber die Chance gebe, zu bestimmen, in welche Richtung die Reise meiner Gemeinde gehen soll. Solide Textauslegung ist ein gewisses Abenteuer für den Prediger. Ich beginne, über ein biblisches Buch oder einen längeren Abschnitt zu predigen, mit dem ehrlichen Willen, mich seiner Autorität zu unterwerfen und seiner Leitung zu folgen. Natürlich liegt die Auswahl der Bibelstellen oft beim Prediger (wenn der Text nicht durch eine Perikopenordnung vorgegeben ist) und jeder einigermaßen erfahrene Bibelleser weiß im Voraus ungefähr, was er von einer bestimmten Textstelle zu erwarten hat. Aber eine Auslegungspredigt bedeutet immer, dass ich nicht zu hundert Prozent vorausplanen kann, was meine Gemeinde in den nächsten Wochen oder Monaten hören wird. In dem Maße, wie wir in die Texte eindringen, kommt es zu Fragen und Antworten, die niemand vorhergesehen hat. Wir stellen uns die Bibel ja gerne als Buch vor, das Antworten auf unsere Fragen gibt, was sie ja auch tut. Aber wenn wir den Text wirklich zu uns reden lassen, kann es sein, dass Gott uns zeigt, dass wir ja gar nicht die richtigen Fragen gestellt haben.
Die Menschen unserer Zeit kommen gerne mit der Frage zu der Bibel: „Wie baue ich mein Selbstwertgefühl auf und werde ein souveränerer Mensch?“ Und dann lesen sie, was die Bibel über Sünde und Buße zu sagen hat – und entdecken, dass unser größtes Problem ja nicht unsere Minderwertigkeitsgefühle sind, sondern unser Stolz und unsere Machtfantasien. Wir sind blind für die Tiefen unserer Ichsucht und bilden uns ein, wir könnten unser Leben schon selber in den Griff kriegen. Und dann lesen wir weiter und kommen zu den Bibelabschnitten, die uns zeigen, wie Gott uns als seine Kinder annimmt und gerecht spricht – und entdecken, dass die Bitte, „sich selbst etwas besser annehmen zu können“ eigentlich viel zu wenig war gegenüber der neue Identität, die wir in Christus bekommen … Wenn wir uns in Gottes Wort vertiefen, wird unser ganzes Denken verwandelt werden und wir erkennen, wie unpassend eigentlich die Fragen waren, mit denen wir unsere Bibellektüre angefangen haben.
Ein weiteres Argument für die Auslegungspredigt ist, dass sie dem Text auch die Chance gibt, darüber zu bestimmen, in welche Richtung die Reise für den Prediger selber geht. Sie hilft ihm, dem Druck besser zu widerstehen, seine Botschaften zu sehr an die Erwartungen und Tabus der Gesellschaft anzupassen, in der er lebt. Sie führt ihn zu Themen hin, an denen er sich eigentlich lieber nicht die Finger verbrennen wollte in einer Zeit, wo manche Aussagen der Bibel (z. B. zu Fragen der Sexualität) sehr unpopulär sind. Die Auslegungspredigt macht mir Mut, Gottes Willen zu solchen Reizthemen deutlich darzulegen, und sie zwingt mich, Mittel und Wege zu finden, diese Themen öffentlich anzusprechen.
So kann die Textpredigt uns davor bewahren, beim Predigen unsere Steckenpferde zu reiten und Lieblingsthemen zu pflegen. Jemand hat einmal gesagt, dass selbst die besten Prediger nur etwa ein Dutzend Predigten auf Lager haben, die sie immer wieder bringen; nur die Bibelstellen wechseln. Und die schlechtesten Prediger haben dann, so könnte man ergänzen, nur eine einzige Predigt, die sie bis zum Geht-nicht-Mehr wiederholen. Diese Kritik kommt der Wahrheit näher, als uns Predigern lieb sein kann, und wir haben nur dann eine realistische Chance, diese Falle zu vermeiden, wenn wir uns in der Kunst der Auslegungspredigt üben.
Regelmäßige Textpredigten sind auch eine gute Anleitung zum persönlichen Bibellesen. Die Hörer lernen es, selber ihre Bibel zu lesen und sich Texte zu erschließen. Sie lernen es, auf die Besonderheiten eines Textes zu achten und den Gesamtzusammenhang der Bibel besser zu verstehen: Was bedeutet dieser Ausdruck und jenes Motiv? Sie werden erfahrenere und sensiblere Bibelleser.
Ich möchte noch ein letztes Argument für die Auslegungspredigt anführen, das Sie nach dem bisher Gesagten vielleicht zunächst überraschen wird. Wir haben gesehen, dass die regelmäßige Textauslegung davor schützt, nur über unsere Lieblingsthemen zu reden, und den textlichen und thematischen Horizont erweitert. Aber sie lässt uns auch immer deutlicher das eine große biblische Zentralthema sehen. Zwei Mal in meinem Leben haben mir Prediger berichtet, dass sie erst nachdem sie Prediger geworden waren, zu einem lebendigen Glauben an Christus kamen; sie waren von ihren eigenen Predigten bekehrt worden. Und ich kenne einen anderen Pastor, der durch das Hören der Textpredigten seines Amtskollegen in der Gemeinde ein lebendiger Christ wurde. Wie ist so etwas möglich?
In der Auslegungspredigt lautet der große Generalschlüssel: Kontext, Kontext, Kontext. Um die Bedeutung eines Satzes zu verstehen, müssen wir fragen: „Was bedeutet dieser Satz im Verhältnis zum Rest dieses Bibelabschnitts?“ Um die Bedeutung des Bibelabschnitts zu verstehen, müssen wir fragen: „Wie verhält sich dieser Abschnitt zum Rest des Buches?“ Um die Botschaft des ganzen Buches zu ermitteln, müssen wir fragen: „Wie verhält sich dieses Buch zum Rest der Bibel?“ Wenn Sie dies Woche um Woche tun, erkennen Sie schließlich den roten Faden der ganzen Bibel: das Evangelium von Jesus Christus. Da dieses Evangelium die große Auflösung und Erfüllung aller Handlungsstränge und Geschichten und Bilder und Begriffe in der Bibel ist, wird den Menschen, die Woche um Woche Auslegungspredigten hören (und dem Prediger selber!), die Erlösung in Jesus Christus und ihre Bedeutung für uns immer mehr aufgehen. Und dabei wird es keine Minute langweilig werden, weil wir das Evangelium in seiner endlosen, herrlichen, immer neuen Fülle erleben. Es gibt nichts Besseres, um eine Gemeinde in diese Realität hineinzuführen, als die Textpredigt.
Achtung: Stolperfallen!
Die Textpredigt sollte also die Regel für jede Gemeinde sein. Aber auch im Ansatz der Textpredigt lauern Gefahren.
Eine dieser Gefahren ist, dass manche Freunde der Auslegungspredigt nicht bereit sind, die enorme Mobilität in unserer heutigen Gesellschaft zu berücksichtigen. Hughes Oliphant Old zeigt in seiner Geschichte der Predigt auf, dass in der Predigt der Kirche der ersten fünf Jahrhunderte die Methode der sogenannten lectio continua (wörtlich: „fortlaufendes Lesen“) üblich war, das heißt die fortlaufende, versweise Auslegung ganzer biblischer Bücher, bei der die Gemeinde im Laufe von Jahren durch große Teile der Bibel geführt wurde. Doch dann gab es immer mehr Feiertage und Feste im kirchlichen Jahreskalender, bis schließlich im Mittelalter die lectio selecta (wörtlich: „selektives Lesen“) üblich wurde, bei der die Gemeinde nicht mehr fortlaufend an einem Stück durch die Bibel geführt wurde, sondern kürzere Predigten zum Thema des jeweiligen Feiertags oder Sonntags gehalten wurden.40 Im 20. Jahrhundert war es Markenzeichen großer Prediger wie D. M. Lloyd-Jones, James M. Boice und John MacArthur, dass sie im Laufe von Monaten oder Jahren ganze Bücher der Bibel systematisch bis ins kleinste Detail auslegten, was zu einem Comeback der Textpredigt der alten Schule führte.
Viele sind heute der Meinung, dass dies die beste und reinste Form der Auslegungspredigt ist. Aber in der Antike, ja noch vor hundert Jahren wohnten die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang in der Gegend, in der sie aufgewachsen waren. Der Prediger, der auf der Kanzel stand, wusste: Die Gemeinde, die da vor ihm saß, würde in ein paar Jahren im Wesentlichen immer noch dieselbe sein. Das war einmal. Heute ziehen die Menschen viel mehr um und wechseln entsprechend häufiger die Gemeinde. Bei der Methode der lectio continua verbringt man leicht ein ganzes Jahr oder mehr mit einem einzigen biblischen Buch. Aber wenn die Familie XY vielleicht schon nach zwei Jahren wieder wegzieht, möchte ich dann wirklich, dass sie die ganze Zeit nur Predigten über das 1. Buch Samuel gehört hat? Oder über das Johannesevangelium, ohne eine einzige Predigt über das Alte Testament? Wir haben oben gesehen, dass eine der Stärken der Textpredigt