Hilfskräfte, Bauarbeiter und Handwerker und sind unverzichtbar, damit in Singapur alles seinen geregelten Gang geht – doch gehören sie gleichzeitig zu den schlechtbezahltesten und schutzlosesten Bewohnern der Stadt.“6 Diese neue Arbeiterklasse war schon lange da, doch hat erst die Pandemie sie ans Licht gebracht.
Um dieser Klasse einen Namen zu geben, haben Bruno Latour und Nokolaj Schultz den Begriff „geo-soziale Klasse“7 geprägt. Die meisten ihrer Mitglieder werden nicht in dem klassisch marxistischen Sinn ausgebeutet, dass sie für diejenigen arbeiten müssen, die über die Produktionsmittel verfügen; ihre „Ausbeutung“ bezieht sich auf die materiellen Bedingungen, unter denen sie leben müssen: die Verfügbarkeit von Wasser und sauberer Luft, Gesundheit, Sicherheit … Die Bewohner einer Region werden ausgebeutet, wenn ihr Territorium von industrieller Landwirtschaft oder intensivem Rohstoffabbau beansprucht wird, um Waren für den Export zu produzieren. Selbst wenn die Betroffenen nicht für ausländische Unternehmen arbeiten, werden sie allein schon dadurch ausgebeutet, dass man sie das Territorium nicht mehr in vollem Umfang nutzen lässt, das bislang ihre Lebensgrundlage darstellte. Nehmen wir die somalischen Piraten: Sie entschieden sich für die Piraterie, weil ihre Küstengewässer von ausländischen Firmen mit industriellen Fangmethoden leergefischt wurden. Die entwickelten Länder haben von einem Teil ihres Territoriums Besitz ergriffen und damit das Ziel verfolgt, den westlichen Lebensstil weiter aufrechtzuerhalten. Schultz schlägt an dieser Stelle vor, nicht mehr von einer Aneignung des „Mehrwerts“, sondern von der Aneignung einer „Mehrexistenz“ zu sprechen, wobei „Existenz“ die materiellen Lebensbedingungen meint.8
Wie sich in der Coronapandemie gezeigt hat, muss die geo-soziale Klasse der Pflegekräfte selbst dann weiterarbeiten, wenn die Fabriken stillstehen – daher erscheint es angebracht, den ersten Mai ihnen zu widmen statt der Klasse der traditionellen Industriearbeiter. Sie werden durch und durch ausgebeutet: wenn sie ihre Arbeit verrichten (da dies weitgehend im Verborgenen geschieht), und auch dann noch, wenn sie nicht arbeiten, also nichts anderes tun, als zu existieren.
Die Reichen haben schon immer von einem Territorium geträumt, in dem sie von den dreckigen Wohngegenden der gewöhnlichen Leute völlig abgeschirmt sind – man denke nur an die vielen post-apokalyptischen Blockbuster wie etwa Neil Blomkamps Elysium, der im Jahr 2154 spielt und zeigt, wie Reiche auf einer riesigen Raumstation leben, während die restliche Bevölkerung auf einer verwüsteten Erde dahinsiecht, die an eine überdimensionale lateinamerikanische Favela erinnert. Aus Angst vor einer Katastrophe erwerben die Reichen Villen in Neuseeland oder renovieren in den Rocky Mountains Atombunker aus Zeiten des Kalten Krieges, doch ist es gerade das Charakteristikum einer Pandemie, dass man sich von ihr nicht vollständig isolieren kann – wie bei einer untrennbaren Nabelschnur bleibt ein Minimum an Kontakt zur schmutzigen Realität bestehen.
Covid-19, Klimaerwärmung, Ausbeutung – ein und derselbe Kampf
Denkt man heute (Ende Juni) an die ersten beiden Monate der Corona-Panik zurück, kann man beinahe schon nostalgisch werden: Wir waren zwar in Quarantäne, rechneten aber damit, dass dieser Zustand einen oder zwei Monate dauern würde und wir dann mehr oder weniger zur Normalität zurückkehren würden – selbst der Leiter des US-amerikanischen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten, Dr. Fauci, stellte seinen Landsleuten in Aussicht, dass sie ihre Sommerferien wieder genießen könnten. Die Quarantäne erschien uns wie eine zeitlich beschränkte Ausnahme, eine fast schon willkommene Auszeit von unserem stressigen Alltag, die uns Gelegenheit bot, sich mehr um unsere Familie zu kümmern, Bücher zu lesen und Musik zu hören und unsere Lust am Kochen wiederzuentdecken, alles in der Gewissheit, dass dieser Zustand bald wieder vorbei sein würde. Inzwischen befinden wir uns in einem Stadium, das manche mit einem Hau-drauf-Reaktionsspiel vergleichen, in dem ständig neue Cluster auftauchen, ganz zu schweigen von der Explosion der Hotspots in Ländern wie den USA, Brasilien und Indien. Erst jetzt wird uns klar, dass wir an der Schwelle einer neuen Epoche stehen, in der wir uns auf ein Leben mit dem Virus einstellen müssen. Wir sehen einer unbestimmten Zukunft entgegen und können nicht abschätzen, welche Entwicklung die Pandemie nehmen wird – eine Situation, die der deutsche Virologe Hendrik Streeck mit den folgenden Worten treffend beschrieben hat: „Ich glaube […] nicht, dass wir eine zweite oder dritte Welle haben werden. Ich glaube, wir sind in einer kontinuierlichen Welle.“9
Dabei sind wir jedoch viel zu sehr auf die Covid-19-Statistiken fixiert, was sich unter anderem daran zeigt, dass viele von uns regelmäßig auf Worldometer nachsehen, wie sich die Zahlen der Infizierten, Verstorbenen und Genesenen entwickeln. Dieser gebannte Blick auf die Zahlen täuscht zwangsläufig darüber hinweg, dass offensichtlich viel mehr Tote von Krebs, Herzinfarkten, Luftverschmutzung, Hungersnöten, bewaffneten Konflikten und häuslicher Gewalt verursacht werden. Es scheint, als müsse man nur die Corona-Infektionen endgültig in den Griff bekommen, und alle unserer Probleme würden sich in Luft auflösen. Doch gilt weiterhin, dass das menschliche Leben viel Elend birgt, ja gewissermaßen ein elender Zustand ist, der oftmals mit sinnlosem Leiden einhergeht und schmerzhaft endet.
Überdies wird immer klarer, wie die Covid-19-Pandemie mit unseren Umweltproblemen zusammenhängt. Vermutlich lässt sich Covid-19 noch relativ einfach in den Griff bekommen, doch wird uns die weltweite Klimaerwärmung radikalere Maßnahmen abverlangen. Greta Thunberg hat zu Recht jüngst darauf hingewiesen, dass „die Klimaerwärmung und die ökologische Krise mithilfe der heutigen politischen und ökonomischen Systeme nicht bewältigt werden können.“10 Wenn die Covid-19-Krise ein weltweites Handeln erforderlich machte, so gilt dies umso mehr für die globale Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung, doch unternehmen wir immer noch keine Schritte in diese Richtung – oder in den Worten Thunbergs, die Andersen zitiert und dabei eines seiner Märchen wunderbar ins Gegenteil verkehrt: „Die Könige sind nackt, und zwar jeder einzelne von ihnen. Es besteht kein Zweifel mehr, dass unsere gesamte Gesellschaft ein einziger großer Nudistentreff ist.“
Es gibt ein Anzeichen von Erderwärmung, das selbst die größten Skeptiker überzeugen sollte: die anhaltende Hitzewelle in Sibirien, die 2020 in der ersten Jahreshälfte Waldbrände, eine Ölpest und eine Plage von Baumschädlingen verursachte. Laut einem Nachrichtenmedium „verzeichneten russische Dörfer im Polarkreis außergewöhnlich hohe Temperaturen, so wurde in Nischnjaja Pjoscha am 9. Juni ein Höchstwert von 30 Grad Celsius gemessen […] Der auftauende Permafrost war zumindest teilweise dafür verantwortlich, dass es in Sibirien in diesem Monat zu einer Ölpest gekommen ist, derentwegen Putin den Ausnahmezustand ausrief. Der Unterbau eines Aufbewahrungstanks für Diesel gab plötzlich nach.“11 Man stelle sich nur vor, was passieren würde, wenn der Permafrost auftaut und all die seit Langem eingefrorenen Bakterien und Viren reaktiviert würden!
Dasselbe gilt für den Zusammenhang zwischen Covid-19 und den anti-rassistischen Protesten, die überall auf der Welt ausbrachen. Die anhaltende Diskussion über das Motto „Black lives matter“ (Warum heißt es nicht „All lives matter“? et cetera) lässt sich ein für alle Mal beenden mit dem Verweis auf ein wunderbar brutales Meme, das momentan in den USA zirkuliert und Stalin mit einem Poster und dem Spruch „No lives matter“ zeigt. (Ich verzichte hier auf polemische Kommentare darüber, dass das Meme auf die Morde zurückgeht, die Anhänger Stalins in Australien verübten.) Das Körnchen Wahrheit, das in dieser Provokation steckt, ist die Einsicht, dass es Dinge gibt, die wichtiger als das bloße Überleben sind – ist dies nicht auch die zentrale Botschaft derjenigen, die gegen die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen protestieren? Schwarze (und ihre Unterstützer) fordern nicht einfach nur das Recht auf Überleben, sondern wollen mit Würde behandelt werden, als freie und gleichberechtigte Bürger, und sind dafür bereit, einiges zur riskieren, mitunter sogar ihr Leben. Deshalb versammeln sie sich zu Demonstrationen, selbst wenn dies das Risiko erhöht, Covid-19 weiterzugeben oder sich damit zu infizieren.
Hatte Giorgio Agamben also Recht, als er sich gegen den staatlich verhängten Lockdown und die Selbst-Quarantäne aussprach, da diese Maßnahmen zur Folge hätten, dass unser Leben auf die bloße Existenz reduziert wird – in dem Sinne, dass wir durch die Einhaltung der Corona-Regeln signalisieren, dass wir bereitwillig das aufgeben, was unser Leben lebenswert macht, damit wir eine Chance haben zu überleben? Müssen wir unser Leben riskieren (indem wir