Marcel Beyer. Bis drei Uhr morgens, fährt der Text fort, habe der Autor noch für den im Entstehen begriffenen Roman »Selbst« (2016) eine Quelle abgetippt, um mit ein paar Bemerkungen überzuleiten zu einer Lesung mit Frank Witzel, für die er auf seiner »Facebook Wall« noch ein Velvet-Underground-Cover gepostet hat. Er würde, während Witzel vorliest, Schallplatten aus dem Jahr 1969 vorspielen. Damit ist Meinecke bei der Musik angelangt. Neben der Arbeit am Text für »Akzente« suchte er Platten für ein DJ Set zusammen – »Besonders schön: Levon Vincents neue 12-inch aus pinkem durchsichtigem Vinyl« –, danach würde er eine »Zündfunk«-Radiosendung vorbereiten und sich dann zu einem Gesprächsabend an der Ludwig-Maximilians-Universität aufmachen.1
Die zweitseitige Beschreibung klingt gänzlich unspektakulär und gibt vielleicht gerade deshalb Einblick in das Werk und Wirken Thomas Meineckes. Der gerafft wiedergegebene Tagesablauf demonstriert, wie sich bei ihm Grenzen auflösen und in ein fließendes Kontinuum geraten: Schreiben und Diskutieren, Literatur und Musik, Arbeit und Freundschaft. Abschließend weist auch der Titel der abendlichen Veranstaltung »Männer schreiben Frauen auf« darauf hin, dass Meinecke seit je die traditionellen Geschlechterrollen hinterfragt. In einem Video anlässlich einer Braunschweiger Poetikvorlesung im Mai 2019 bezeichnet er sich selbst als »feministischen Romancier«, der seit über 20 Jahren als Autor geprägt sei durch die Gender Studies, »wo die Idee einer geschlossenen Persönlichkeit, eines Subjekts, die einen Text verfasst, eigentlich auch unter die Lupe gelegt wird«.2
Im inzwischen legendären Essay »Cross the Border. Close the Gap« hielt der US-Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler 1968 den Vertretern der literarischen Moderne ein neues ästhetisches Konzept entgegen. Mit Rückgriff auf den französischen Trompeter, Sänger und Schriftsteller Boris Vian plädierte er für eine »Überbrückung der Kluft zwischen Eliten- und Massenkultur«, ohne sich vor den »Formen des Pop« wie Western, Science Fiction oder Pornografie zu scheuen. Es gelte die traditionelle ästhetische (Rang-)Ordnung zu zerschlagen, mit diesem Ziel sei die Pop Art »subversiv, ungeachtet ihrer erklärten Absichten, und eine Bedrohung für alle Hierarchien, weil sie wider die Ordnung ist«.3
Leslie A. Fiedlers Ruf nach einer ästhetischen und poetischen, zugleich »komischen, respektlosen und vulgären«4 Kritik erreichte die deutschsprachige Literatur schon vor Thomas Meinecke, doch in ihm hat sie ihren leidenschaftlichsten und konsequentesten Verfechter gefunden. 1994 erschien von ihm im »Spiegel Spezial« ein Aufsatz mit dem lakonischen Titel »Alles Mist«. Darin nimmt Meinecke, der wie Vian auch Trompete spielt und singt, Fiedlers Faden auf, allerdings argumentiert er nicht literarisch, sondern musikalisch. »Guter Pop war zu allen Zeiten ein Bastard, unrein, im besten Sinn volkstümlich, populär«, schreibt er und wendet sich so gegen »den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«. Der deutschen Musik, insbesondere der deutschen Volksmusik, falle es schwer, sich von traditionalistischen Sentimentalitäten zu trennen, weshalb alles Mist oder Kitsch sei, was in diesem Bereich produziert werde. »In Amerika haben sie das besser gemacht«, kommt Meinecke zum Kern der Sache. »Amerikanische Folkmusic, ob Jazz, Bluegrass oder Zydeco, entsteht gerade durch das Gegenteil von musealer Traditionspflege, chauvinistischer Wurzelsuche oder des bei uns so unheilvoll grassierenden Authentizitäts- und Identitätswahns, sondern vielmehr durch das Vertrauen auf produktive Missverständnisse, nicht zuletzt durch migratorische Entwurzelung.«5 Damit hat er den Dreh- und Angelpunkt auch seines eigenen Schaffens formuliert. Im Umfeld der Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«, für die er ab 1978 erste Texte schrieb, entstand 1980 die von Meinecke zusammen mit Michaela Melián, Justin Hoffmann und Wilfried Petzi gegründete Band »Freiwillige Selbstkontrolle«, später kurz F. S.K. Die Band bedient sich bis heute bei Pop-Elementen, experimentiert aber auch ausgeprägt mit volkstümlicher Musik. F. S.K. mischt respektlos Stile miteinander, um »Genres zu erneuern, Identitäten zu überschreiten« und so einen Pop zu schaffen, der von jeglichem Heimat-Purismus befreit ist. In den muttersprachlichen Texten findet F. S.K. nicht »unsere Identität«, wie Meinecke in »Alles Mist« schreibt, »sondern unsere Abweichung«, denn »Kultur darf niemals zu sich selber finden«.6
In einer Vorbemerkung zur Videoclip-Kompilation »Schule ohne Worte«, die Meinecke im Suhrkamp-Logbuch unterhält, wird der Stellenwert von Musik »als das Medium der Dislokation, Dekonstruktion vermeintlicher Mitten, als vorrangiger Impuls- und Taktgeber im Schaffen des popistischen Romanciers«7 betont. Das klingt programmatisch; entsprechend macht Thomas Meinecke die »Dekonstruktion vermeintlicher Mitten« auch in seinem Schreiben produktiv. Pop wird auch literarisch zur griffigen Formel für das Aufbrechen herkömmlicher Normen und ihre ästhetische Überholung, Pop fordert das beständige Hinterfragen von Identitäten und Geschlechterrollen. In seinem Verständnis markiert die Popkultur »eine Distanz zur Hochkultur«: Pop ist ein diagnostisches Instrument, das die Realität frei von elitärem Gehabe ins Visier nimmt und damit weit weg ist von dem, wie Meinecke 2008 in einem Interview sagt, ganz auf Affirmation angelegten »totalitären System« Pop.8
In dem Sinn verbindet sich Pop mit analytischer Schärfe. Meinecke driftet nicht auf den Oberflächen umher, wie es dem landläufigen Pop zum Vorwurf gemacht wird, sondern wirft seine Fangnetze in unergründete Tiefen, um Verschollenes, Verdrängtes, Verachtetes zu heben mit dem Ziel, das »Queerpotenzial« unserer hybriden Kultur zu erkennen und herauszuarbeiten. Pop meint hier, resolut die Ordnungsstrukturen zu hinterfragen und sie in einem literarischen Sound so subtil zu zitieren wie virtuos zu remixen. Das Wort »Gedanken-Pop«, das Jörg Drews in einer Rezension zu »Tomboy« verwendet, ritzt auch nur die Oberfläche. Thomas Meinecke zielt tiefer, analysiert die kulturelle Dichotomie von wertschätzender Traditionsorientierung und oberflächlicher Zeitgenossenschaft wie kaum ein anderer Autor und entlarvt sie als falsch. Insofern weist Pop bei ihm weit über die musikalische und literarische Genrefragen hinaus.
Resolut formuliert es Thomas Meinecke bereits in einem seiner frühesten Texte: »Neue Hinweise: Im Westeuropa Dämmerlicht 1981« für die »bohemistische« Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«. Zur Maxime erhebt er das »Kybernetische Verhaltensprinzip«, das als »Absage an das Prinzipiendenken und an jede Form von Dogmatismus« zu verstehen ist. Es enthält ein striktes »Ja zur Modernen Welt« sowie die Gegnerschaft zur eskapistischen »neuen Hippie-Generation«. »Wir Kybernetiker«, gipfelt das Konzept darin, müssen »unsere Wachsamkeit in Spiel und Revolte der ständig veränderten Situation anpassen: Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie. Dies nennen wir Freiwillige Selbstkontrolle«9 – in ironischer Anlehnung an die Wiesbadener FSK, die Selbstzensuranstalt der deutschen Filmwirtschaft. Das ist Diskurs-Pop – hier allerdings noch in satirischer Verkleidung.
Schon 1986 war Meineckes Erstling »Mit der Kirche ums Dorf« erschienen, eine Auswahl von Kurzprosa, die er von 1978 bis 1986 für »Mode & Verzweiflung« und ab 1982 für »Die Zeit« verfasst hatte. Darin – und in der 12 Jahre später erschienenen Anthologie »Mode & Verzweiflung« – schöpft er kräftig aus dem narrativen Volksvermögen, indem er Geschichten aus den Medien variiert und die Perspektive des trägen TV-Publikums zum Standard erhebt. Sich selbst hält der Erzähler diskret hinter einem ungreifbaren »Wir« versteckt. Meineckes sarkastische Spitzen zielen direkt auf den Typus des »68er-Gutmenschen«, der seine ehrlichen, persönlichen Animositäten oft nur notdürftig unter dem Mäntelchen der political correctness verbirgt. Dabei schreckt Meinecke in perfider Unbefangenheit auch nicht vor taktlosen Bemerkungen zurück, die durch deftige Pointen und absurd wirkende Fotoillustrationen noch akzentuiert werden. Die zugespitzten Formulierungen, mit denen er die Populär- und Unterhaltungskultur aufs Korn nimmt, täuschen nie über den unterschwelligen kulturtheoretischen Ernst hinweg. Auch wenn Meinecke sichtlich nicht der 1968er-Euphorie