noch eine Stimme im Volk und Einfluss auf die Politik hatte. Heute weiterhin von so etwas wie Volkskirche2 zu sprechen, ist nicht mehr korrekt; die Zahlen sprechen dagegen.
Kirchenschwund
In seinem Aufsatz „Am Ende der Christenheit“ zitiert Reinhold Scharnowski Stuart Murray:
Die Kirche umfasste zur Zeit Konstantins (272-337) ja immerhin 10 % der Bevölkerung und war über 250 Jahre lang mit einer Rate von über 40 % pro Jahrzehnt gewachsen. Nun wurde sie mit dem Edikt von Nicäa im Jahr 325 quasi über Nacht zur Staatsreligion. 529 machte Justinian die Bekehrung zur Pflicht – Juden ausgenommen – und schrieb vor, dass alle Neugeborenen getauft werden müssen. Das Christentum wurde zur Standard-Religion und lieferte den Rahmen für das mittelalterliche Europa. Im 14. Jahrhundert war Europa ein „christlicher“ Kontinent mit gemeinsamem Glauben, gemeinsamem Zugehörigkeitsbewusstsein zur Kirche und gemeinsamen Verhaltensnormen. Jesus wurde marginalisiert; an die Stelle der Mission trat die Erhaltung. Natürlich gab es immer Strömungen neben den großen Kirchen, die versuchten, die Qualität des ursprünglichen Glaubens wiederherzustellen, so etwa die Lollarden und Waldenser des 15. Jahrhunderts, deren Programm im Übrigen erstaunlich dem der heutigen Basis- und Hausgemeinde-Bewegungen gleicht. Aber sie blieben Randerscheinungen und wurden in der Regel massiv bekämpft.
Mit der Reformation zerbrach der große Block in mehrere „Christenheiten“. Die Reformatoren veränderten einige Aspekte des Glaubens und der Ethik. Die Grundstruktur des ganzen Systems – Zwangskirche, Kindertaufe, Hierarchie, Priester-Laien-Dualismus usw. – wurde aber nicht hinterfragt. Auch gründeten die Reformatoren kaum neue Gemeinden, sondern „reformierten“ die alten katholischen Strukturen (was generell zu weniger radikalen Veränderungen führt als die Gründung neuer Gemeinden). In den kommenden Jahrhunderten blieben die Strukturen; die Inhalte jedoch wurden durch Aufklärung und Säkularisierung zunehmend verdünnt. Heute zeigt sich, dass die immer brüchiger werdenden Strukturen diese innere Entleerung nicht mehr kompensieren können. Die konstantinische Struktur ist am Ende.3
Verwirrung pur
Nun, je dramatischer der Bodenverlust, desto mehr Anstrengungen müssen unternommen werden, um dem entgegenzuwirken – so der Aufruf der Erweckungsprediger. Die einen rufen zurück zu den Traditionen, während die anderen eine neue Reformation forcieren und längst ihre aktualisierten 95 Thesen in der Tasche haben. Aber die Meinungen gehen noch sehr viel weiter auseinander und sorgen für nicht wenig Verwirrung unter den Gemeinden.
Erweckung sei ein alleiniges Wirken des Heiligen Geistes, wird behauptet; andere sehen eher ein notwendiges Zusammenwirken von Gott und Mensch als Voraussetzung, noch andere betonen viel mehr die Seite des Gläubigen, der Gott durch sein gehorsames Benehmen, intensive Heiligung oder inbrünstiges Gebet dazu bringt, seine Gnade zu erweisen und das Volk zu segnen.
Es kann nur durch den Klerus4 geschehen, betont der Klerus, andere meinen ganz im Gegenteil, dass Erweckung eine Bewegung von „unten“ ist, von den Laien also.
Auch wollen die einen dringend Gemeinden gründen, während andere sie abschaffen wollen; worin die einen die Lösung sehen, sehen die anderen das Problem; was den einen der Segen, ist den anderen der Fluch. Dies kann zu erbitterten Gegnerschaften führen.
Es werden vergangene Erweckungen herangezogen, um den einen oder anderen Ansatz zu stützen oder Aspekt hervorzuheben, aber da es zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Volksgruppen ganz unterschiedliche Auslöser für Erweckung gegeben hat, ist keine Eindeutigkeit zu gewinnen. So führt der Hunger nach Erweckung häufig zu Gemeindespaltungen und zur Bildung von Sekten, die sehr elitär sein können, was manchmal im Ergebnis eher nach dem genauen Gegenteil von Erweckung aussieht, nämlich einer Aufreibung der Gläubigen in sinnlosen Auseinandersetzungen und Grabenkämpfen, die sie vom Eigentlichen abhält. Andere schotten sich ganz von „der Welt“ ab und ebenso von allen anderen Christen, die sie für „abgefallen“ halten, um sich nicht durch Kontakt mit ihnen zu verunreinigen (Kontamination). Es wird keine Verrücktheit ausgelassen, von Ultrarechts bis Ultralinks, von supergesetzlich bis laissez faire findet sich das ganze Spektrum unterschiedlichster Ansätze und „Experimente“ – und jeder hält sich für richtig. Manchmal weiß man nicht mehr, ob man darüber weinen oder lachen soll.
Konflikte
Die aktuelle Situation ist wie die in dem berühmten Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten:
Darin untersucht eine Gruppe von Blinden – oder Männern – in völliger Dunkelheit einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht ein anderes Körperteil (aber jeder nur ein Teil), wie zum Beispiel die Flanke oder einen Stoßzahn. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen untereinander und stellen fest, dass jede individuelle Erfahrung zu vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen führt.5
Als Erweckungsbewegungen werden Strömungen im Christentum bezeichnet, die die Bekehrung des Einzelnen und praktische christliche Lebensweise besonders betonen. Gemeinchristliche oder konfessionelle Dogmen treten zurück hinter ein ursprüngliches Verständnis eines direkt aus der Bibel entnommenen Evangeliums. Erweckungsbewegungen gehen davon aus, dass lebendiges Christentum mit der Antwort des Menschen auf den Ruf des Evangeliums zu Umkehr und geistiger Erneuerung beginnt. Gedanklich fußt der Begriff auf Epheser 5,14 [Lu]: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ Da nur der Glaube ins ewige Leben führe, sei die Existenz des Ungläubigen dem Tode geweiht. Somit erscheint die Hinwendung zum Glauben als Hinwendung zum Leben bzw. – in Analogie zur Auferstehung Christi – als Erweckung vom Tode.
So definiert es die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, verhehlt aber auch nicht das enorme Konfliktpotential, indem sie weiter unten im Artikel bemerkt:
Bei praktisch allen Erweckungsbewegungen kam es teilweise zu starken Emotionen: Leute brechen während der Predigt in Tränen aus, sind überschwänglich glücklich über ihre Bekehrung oder haben ekstatische Erlebnisse. Während diese Begleiterscheinungen in vielen Fällen von den beteiligten Predigern bejaht wurden, trafen sie insbesondere bei den Theologen der etablierten Kirchen auf massive Kritik und dienten oft als Anlass, um eine als Konkurrenz empfundene Bewegung insgesamt zu verurteilen.
Ja, gerade wir Deutschen scheinen uns mit dem Bereich der Emotionen, die in der Erweckung miterwachen, ausgesprochen schwer zu tun. Wir setzen von Haus aus gerne auf Ordnung, Disziplin und Arbeit; mit Tränen und hysterischem Benehmen in der Kirche können wir uns nicht so ohne weiteres anfreunden. Die so genannte Berliner Erklärung6 ist dafür ein trauriges Zeugnis.
Beim Thema Gefühle streifen wir einen neuralgischen Punkt, an dem deutlich wird, dass Erweckung womöglich etwas Ganzheitliches ist, was vielen Frommen überhaupt nicht in den Kram passt. Sie wollen eigentlich eine beschränkte bzw. selektive Erweckung, und darüber hinaus soll es bitteschön eine kontrollierte und eben „ordentliche“ Form von Aufbruch sein, „sonst kann es nicht von Gott sein“ und sie steigen aus. Dabei verstehen sie unter Erweckung gerne eine Rückkehr zu den guten Sitten, eine Art moralisches Erwachen, in dem die Leute auf einmal in sich gehen, ihr Gewissen entdecken und beschließen, anständige Bürger und Mitglieder ihrer Gemeinde zu werden – mit Gottes Hilfe.
Insgeheim hoffen eine Menge Christen darauf, dass Erweckung alle ihre Gemeindeprobleme lösen wird (und auch endlich die chronischen Finanznöte). Sie stellen sich vor, der Heilige Geist würde wie an Pfingsten auf die Gläubigen fallen – und dann seien auf einmal alle