und ein Unwetter bahnte sich an. Leiser Regen prasselte auf das Dach, doch die Tropfen wurden schnell größer.
Hoffentlich hatte Papa ihr Fehlen noch nicht bemerkt. Er würde sonst umkommen vor Sorge!
»Ich muss jetzt leider los, Mrs Ward«, sagte Izzy, während sie ihre Stute losband.
Die Bäuerin sah besorgt nach draußen. »Ich bete für Sie, Miss Norwood, damit Sie gut nach Hause kommen.«
»Mir macht ein Gewitter nichts aus«, erklärte ihr Izzy, wobei sie Shiela beruhigend streichelte. »Aber meine Stute ist ein Angsthäschen.«
Wie zur Bestätigung tänzelte Shiela angespannt und zog den Schweif ein.
»Ruhig, meine Süße«, murmelte Izzy. »Da musst du jetzt durch.«
Sie zog sich ihren Mantel an, saß auf und verabschiedete sich von Mrs Ward. Dann ritt sie hinaus in den Regen. Blitze zuckten durch das Halbdunkel, der Donnerschlag folgte in immer kürzeren Abständen. Verdammt, das Unwetter kam schnell näher. Um ihm vielleicht ein Schnippchen schlagen zu können, musste Izzy eine Abkürzung nehmen. An der Grenze zu Henrys Land gab es einen Wald. Durch den ritt sie bei Dämmerung niemals, denn sie fand es gruselig, wie die Bäume ihre Äste gleich knorrigen Armen nach ihr ausstreckten. Aber es half alles nichts, dieser Weg würde eine Menge Zeit sparen. Heute musste also nicht nur ihre Stute die Zähne zusammenbeißen, sondern auch Izzy.
***
Henry beeilte sich, nach Hause zu kommen, und trieb seinen Hengst an, noch ein wenig an Tempo zuzulegen. Der plötzliche Wetterumschwung bekam seinem vernarbten Oberschenkel nicht, und es regnete immer stärker. Außerdem zog das Gewitter direkt auf ihn zu; er sollte den Wald schleunigst verlassen, damit er nicht von abgerissenen Ästen oder entwurzelten Bäumen getroffen wurde. Er war zwar in Indien auch schon in heftige Unwetter geraten, aber dort hatte niemals solch ein eisiger Wind geweht. Feuchtigkeit sowie Kälte krochen in seinen Nacken, und es würde nicht mehr lange dauern, bis seine Kleidung völlig vom Regen durchtränkt war.
Blitz und Donner erinnerten ihn an Artilleriefeuer, und Bilder von Blutvergießen und roher Gewalt zuckten vor seinem inneren Auge auf. Er hörte die Schreie sterbender Menschen, roch den Schmauch der abgefeuerten Schusswaffen. Henry hatte in der Armee jede Menge Leid gesehen und mit verursacht. Gott sei Dank lag dieses Kapitel hinter ihm. Es würde ihn allerdings auf ewig verfolgen.
Er sehnte sich nach einem prasselnden Kaminfeuer und würde seine neugewonnenen Privilegien genießen: sich ein warmes Bad richten lassen, sich an einem ausgiebigen Abendessen erfreuen, früh zu Bett gehen und lange ausschlafen. Bereits nachmittags hatte es nach schlechtem Wetter ausgesehen und er wäre auch gar nicht losgeritten, wenn er nicht in Rochester einige Papiere unterzeichnen und andere dringende Angelegenheiten erledigen hätte müssen, die seine neuen Verpflichtungen mit sich brachten.
Niemals hätte er geglaubt, dass er einmal einen Adelstitel erben würde. Im Grunde hätte ihm nach der Geschichte in Indien nichts Besseres passieren können; nur dass er sich eine Ehefrau suchen musste, stresste ihn. »Müssen« war auch nicht das richtige Wort, eher sah er seine Pflicht darin, einen männlichen Erben zu zeugen, um all diese Privilegien an seinen Spross weitergeben zu können. Er hatte eine zweite Chance bekommen und wollte, dass es seine Nachkommen einmal besser hatten als er. Henry war zwar nicht in Armut aufgewachsen, hatte aber mehrmals erfahren, wie schnell sich alles im Leben ändern konnte.
Sein Vater war Lehrer gewesen, dementsprechend streng, aber umfangreich, hatte sich Henrys Ausbildung gestaltet. Doch als sein Vater viel zu früh starb – Henry war erst sechzehn –, konnten Mutter und er nicht ewig von dem Ersparten leben. Deshalb ging er zum Militär und schloss sich später der Ostindien-Kompanie an, um seine Mutter in England finanziell unterstützen zu können. Sein Offizierspatent für die Armee hatte er nicht gekauft, wie einige Adlige oder reiche Industrielle – er hätte die mehreren tausend Pfund ohnehin nicht aufbringen können –, sondern er hatte erst die Militärschule besucht und sich danach jeden einzelnen seiner Ränge durch Leistung verdient. Fernab der Heimat hatte Henry ein völlig neues Leben begonnen und geglaubt, die ganz große Liebe gefunden zu haben.
Dabei war alles ganz anders gekommen.
Als ein mächtiger Blitz die Nacht zum Tag machte und ein gewaltiger Donnerschlag das Prasseln des Regens zerriss, zuckte er unwillkürlich zusammen. Sein Hengst – das ehemalige Reittier des früheren Marquess – schnaubte lediglich heftig und setzte tapfer seinen Weg fort. Aber Henry hörte ein Wiehern in der Nähe, dann die Rufe einer Frau. Wegen des Unwetters konnte er jedoch kein Wort verstehen. Der Regen hatte sich zu einer wahren Sturzflut ausgeweitet und die Donnerschläge erschütterten ihn bis ins Mark. Das Gewitter musste sich direkt über ihm befinden!
Als er die Wegbiegung passierte, sah er vor sich einen Reiter auf einer nervös tänzelnden Stute. Der Mann klammerte sich an den Hals des Tieres, das sich immer wieder aufbäumte, doch er konnte sich auf dem Pferd halten. Erst als Henry ihn rufen hörte: »Shiela, ganz ruhig!«, wusste er, dass es sich um eine Frau handelte … um eine Frau in Hosen!
War das etwa Isabella Norwood?
Der nächste Blitz offenbarte ihr helles Haar, das ihr in dicken, feuchten Strähnen auf die Schultern fiel, und ihre vor Schreck aufgerissenen Augen.
Verflucht, was suchte sie hier inmitten eines Unwetters? Noch dazu um diese Zeit? Es war beinahe dunkel!
»Halten Sie durch!«, rief er und ritt direkt auf sie zu.
Just in dem Moment schlug ein Blitz einige Meter entfernt in einen Baum ein. Der Lärm war ohrenbetäubend und die Entladung so gleißend, dass Henry in den nächsten Sekunden kaum noch etwas erkennen konnte. Funken stoben am Stamm herab und die Erde bebte. Nun scheute auch sein Hengst, und Henry versuchte, sich nicht zu verkrampfen, um dem Tier die nötige Sicherheit zu geben.
Als sich die grellen Flecken vor seinen Augen auflösten, lag Izzy mit dem Rücken auf dem Boden und rührte sich nicht mehr, während ihr Pferd davon galoppierte.
Verdammt!
Sein Herz pumpte wild darauf los und er betete, dass Izzy lebte und nicht allzu schwer verletzt war. Henry würde es nicht ertragen, wenn er ihr herzliches Lachen nie mehr hören könnte.
Als Izzy durch die Luft flog und rücklings auf dem Waldboden aufschlug, presste es ihr sämtliche Luft aus den Lungen. Außerdem tanzten Flecken vor ihren Augen, sie konnte sich nicht bewegen und glaubte, zu ersticken. Regen prasselte auf ihr Gesicht und raubte ihr zusätzlich den Atem. Sie fragte sich, ob das ihr Ende war. Ob sie nun sterben würde. Doch dann kehrte zum Glück Leben in ihre Glieder zurück und sie schnappte nach Luft.
Ihre Stute Shiela hatte sich so sehr erschrocken, dass sie Izzy abgeworfen hatte. Nun war die Süße fort, und sie lag ganz allein in der Dunkelheit! Izzy tastete feuchtes Moos unter ihren Fingern und dankte Gott, dass sie auf einem weichen Polster gelandet war. Ansonsten hätte sie den Sturz vielleicht nicht überlebt.
Plötzlich beugte sich eine düstere Gestalt über sie, und Izzy stieß einen Schrei aus. Donner knallte, Blitze durchzuckten die Finsternis – und sie blickte direkt in Henrys vernarbtes Gesicht. Wie ein Dämon wirkte er auf sie – auf seine Weise teuflisch schön und doch unsagbar gefährlich. Ihm hier ganz allein im nachtschwarzen Wald zu begegnen, war etwas völlig anderes, als sich mit ihm in einem überfüllten, kerzenerleuchteten Saal zu unterhalten.
»Izzy, ich bin es, Henry!« Er ging in die Hocke und starrte sie besorgt an, wobei er ihr behutsam über den Kopf strich. »Kannst du dich bewegen?«
»Ich denke schon«, murmelte sie, wusste aber nicht, ob er sie überhaupt hörte, denn das Unwetter tobte wie wild um sie herum. Izzy musste so schnell wie möglich nach Hause!
Henry streckte ihr den Arm hin, um ihr aufzuhelfen. Sie ergriff seine Hand, doch ihre Beine fühlten sich so weich an, dass sie gegen Henrys große Gestalt sackte.
»Hab dich«, murmelte er in ihr Ohr, und sie spürte die angenehme Wärme, die er ausstrahlte, als er sie umarmte. Außerdem roch er gut, nach Leder und Regen, Bergamotte und einem ansprechenden Duft, den sie nicht kannte. Aber er