kennst – diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner Existenz, sie fühlte ich, die Dreizehnjährige. Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wunder, Du für mich, das Kind, sein musstest!
Muss ich Dir noch sagen, dass von diesem Tage an in unserem Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als Du. Ich beobachtete Dich, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens[20] drückte sich in der Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge Menschen, Kameraden von Dir, mit denen Du lachtest, abgerissene Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren, einmal der Direktor der Oper, der große Dirigent, dann wieder kleine Mädel, die noch in die Handelsschule gingen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch nicht, als ich eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame von Dir weggehen sah – ich war ja erst dreizehn Jahre alt, und die leidenschaftliche Neugier wusste im Kinde noch nicht, dass sie schon Liebe war. Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann ich ganz und für immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit Deiner ungeduldigen Art vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlich[21] zwang es mich, Dir die Tür aufzumachen. Du sahst mich an mit warmen, weichen Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächeltest mir und sagtest mit einer ganz leisen und fast vertraulichen Stimme: „Danke vielmals, Fräulein.“
Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen weichen, zärtlichen Blick gespürt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja später erfahren, dass Du diesen Blick des geborenen Verführers, jeder Frau hingibst, die an Dich streift. Aber ich, das dreizehnjährige Kind, ahnte das nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir erwacht. „Wer war das?“ fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich antworten. Es war mir unmöglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein
Geheimnis geworden. „Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt“, stammelte ich dann ungeschickt[22] heraus. „Aber warum bist du denn so rot geworden, wie er dich angeschaut hat?“ spottete[23] die Freundin mit eines neugierigen Kindes. Blöde Gans“, sagte ich wild. Aber sie lachte nur noch lauter, bis ich fühlte, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich ließ sie stehen und lief hinauf. Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt.
Ich weiß, Frauen haben Dir oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat Dich so hingebungsvoll[24] geliebt wie dieses Wesen, das ich war. Nur einsame Kinder können ganz ihre Leidenschaft zusammenhalten[25]. Die andern spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen[26] damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuvertrauen: ich stürzte hinein in mein Schicksal wie in einen Abgrund[27]. Alles, was in mir wuchs, wusste nur Dich, den Traum von Dir, als Vertrauten.
Mein Vater war längst gestorben, die Mutter mir fremd in ihrer ewige Bedrücktheit[28], die Schulmädchen stießen mich ab, weil sie so leichtfertig[29] mit dem spielten, was mir letzte Leidenschaft war. Du warst mir – wie soll ich es Dir sagen? Jeder einzelne Vergleich ist zu gering – Du warst eben alles, mein ganzes Leben. Alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dir verbunden war. Bisher mittelmäßig in der Schule, wurde ich plötzlich die Erste, ich las tausend Bücher bis tief in die Nacht, weil ich wusste, dass Du die Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter, plötzlich Klavier zu üben, weil ich glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern. Aber Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen. Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten. An unserer Tür war ein kleines Guckloch, durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen konnte. Dieses Guckloch – nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute, noch heute schäme ich mich jener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer. Ich war immer um Dich, immer in Spannung und Bewegung. Ich wusste alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzüge.
Ich weiß, das sind alles kindische Torheiten, die ich Dir da erzähle. Aber ich schäme mich nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen kindlichen Exzessen.
Aber ich will Dich nicht langweilen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen. An einem Sonntag muss es gewesen sein. Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, durch die offene Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte. Er war staunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich Deine Wohnung von innen.
Diese Minute war die glücklichste meiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Ich merkte nicht, dass ein älterer Herr, ein Kaufmann aus Innsbruck öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, was ja meine höchste, meine einzige Seligkeit[30] war.
Eines Tages nun rief mich die Mutter in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich wurde blass und hörte mein Herz plötzlich hämmern[31]: sollte sie etwas geahnt? Mein erster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst verlegen[32], sie küsste mich (was sie sonst nie tat), sie begann zu erzählen, ihr Verwandter habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie sei entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. „Aber wir bleiben doch hier?“ konnte ich gerade noch stammeln[33]. „Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.“ Mehr hörte ich nicht. Mir ward schwarz vor den Augen. Später wusste ich, dass ich in Ohnmacht[34] gefallen war. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich Dir nicht schildern[35]: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten.
Niemand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.
An diesem letzten Tag fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, dass ich nicht mehr leben konnte ohne Deine Nähe. Wie ich mir es dachte und ob ich überhaupt klar in diesen Stunden der Verzweiflung[36] zu denken vermochte, das werde ich nie sagen können, aber plötzlich – die Mutter war fort – stand ich auf im Schulkleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ich ging nicht: es stieß mich mit steifen Beinen, mit zitternden[37] Gelenken magnetisch fort zu Deiner Tür. Ich sagte Dir schon, ich wusste nicht deutlich, was ich wollte: Dir zu Füßen fallen [38]und Dich bitten, mich zu behalten als Magd, und ich fürchte, Du wirst lächeln über diesen unschuldigen Fanatismus einer Fünfzehnjährigen, aber