Ruth Anne Byrne

Die dunklen Bücher - Vergiss den Vampir


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      KNACK.

      Himmel, Sarg und Sonnenschein! Versteinert bleibt Viktor stehen.

      Der Junge dreht sich um. „Hey! Wer ist da?“ Er strahlt das grelle Licht in Viktors Augen.

      Viel zu hell! Viktor faucht, hält sich schützend den Arm vors Gesicht.

      Der Junge macht einen Schritt zurück und mustert Viktor von oben bis unten. „Was hast du denn für eine komische Verkleidung? Halloween ist erst in ein paar Monaten!“

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      „Vas?“ Viktor wagt einen Blick über den Ärmel und kneift gleich wieder die Augen zusammen.

      „Mann, schau in den Spiegel. Erschrecken kannst du meine Schwester …“ Er deutet zur Wiese. „Die ist 15 und hat trotzdem mehr Schiss als ich!“

      Viktor räuspert sich. In einen Spiegel hat er seit mehr als hundert Jahren nicht mehr gesehen. Wozu auch?

      Der Junge setzt an, ihn wegzustoßen. Doch als er Viktors Schulter berührt, zieht er die Hand sofort zurück. „Du bist ja ganz kalt!“

      Viktor schluckt. Panik macht sich in ihm breit.

      Unerschrocken redet der Junge einfach weiter: „Wie genial ist das denn! Ein echter Vampir? Kannst du fliegen? Dich in eine Fledermaus verwandeln? In der Nacht sehen? Wahnsinn!“ Seine Stimme überschlägt sich.

      Viktor blinzelt in den Lichtkegel. Warum freut der sich so?

      Noch nie hat sich eines seiner Opfer gefreut.

      „Endlich passiert mal was in diesem langweiligen Urlaub!“ Er betrachtet Viktor von oben bis unten.

      „Es gibt euch also wirklich … wie in dem Buch, das ich gerade lese. Von Werwölfen und Vampiren. Enzyklopädie der Untoten.“

      Viktor zieht eine Augenbraue hoch. So etwas liest dieser Kerl? Sollte er dann nicht gebührlichen Respekt vor den Wesen der Nacht haben? Knoblauch aber auch, die Menschen von heute!

      Plötzlich hört Viktor Tante Udines Stimme in seinem Kopf, genauso wie sie es schon tausend Mal zu ihm gesagt hat: Kein Mensch darf erfahren, dass es uns gibt!

      Der Junge muss ihn vergessen! Wie vom Blitz getroffen erwacht Viktor aus seiner Starre. Er packt den Arm des Jungen und schiebt das Handy beiseite, tritt einen Schritt nach vorn und sieht ihm tief in die Augen.

      „Du hörst nur meine Stimme und meine Stimme allein.

      Du hast nie einen Vampir getroffen und erinnerst dich nicht an dieses Gespräch. Jetzt schließe die Augen!“

      Der Junge gehorcht.

      Viktor hechtet hinter den nächsten Baum.

      Im Sprung breitet er den Umhang aus, verwandelt sich in eine Fledermaus und flattert davon – durch die Baumkronen, die Felsen des Burgbergs entlang hinauf und durch eine Ritze im Gemäuer hinein in das Kellergewölbe.

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      Als er wieder seine Menschengestalt annimmt, lehnt Viktor sich mit dem Rücken gegen die Wand. Seinen Kopf lässt er mit einem TOCK nach hinten an den Stein fallen. „Vas für ein Reinfall!“

      Sein Magen knurrt – noch immer. Wenigstens einmal nippen hätte er sollen. Es wäre ein leichtes Spiel gewesen. Er schluckt. Ohne Tante Udine ist das nicht das Gleiche. Sonst hat das immer sie gemacht bei der gemeinsamen Jagd.

      Beruhigend hallt ihre Stimme durch seine Gedanken: Gehe niemals ein Risiko ein!

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      Gefühlt jede einzelne Nacht seines Unlebens hat sie das zu ihm gesagt. Nach fast 50.000 Ermahnungen hat es sich eingebrannt bis in alle Ewigkeit.

      Trotz ihrer Vorsicht haben die vermaledeiten Vampirjäger Tante Udine erwischt. Schwer verletzt ist sie ihnen gerade noch entkommen. Deshalb hat Viktor sich seit Tagen nicht aus der Burg getraut, bis ihn der Hunger heute Nacht hinausgetrieben hat. Und jetzt bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als weiter Zeit verstreichen zu lassen und zu warten.

      Er rafft sich auf und trottet die steinerne Treppe nach unten. Am nächsten Treppenabsatz springt er über eine versteckte Falltür im Boden und bleibt seitlich vor einer Felswand stehen. Dort greift er in eine Ritze, tastet nach einem Hebel und drückt gleichzeitig mit dem Fuß einen Stein tiefer in die Mauer. Ächzend öffnet sich ein Durchgang. Viktor schiebt dichte Spinnweben wie einen Vorhang beiseite. Tante Udine hat die riesige Spinne darin gehegt und gepflegt. Die Hüterin des Hauses.

      Mit dem Zeigefinger krault Viktor ihren haarigen Bauch.

      „Tut mir leid, Serafina, habe nichts für dich dabei.

      Heute gehen vir beide leer aus.“

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      Niedergeschlagen betritt er einen Raum mit Perserteppichen am Boden und einer langen Reihe von Bildern in goldenen Rahmen an den Felswänden.

      Viktor dreht an einem schweren Rad aus Metall.

      Knarzend schließt sich das Tor wieder. Er hält seinen Blick gesenkt. Bloß nicht das erste Bild ansehen!

      Das Portrait zeigt ihn: die schwarzen Haare gewachst, die Lippen blutrot und daneben Tante Udines ehemaliger Wolfshund, der ihm mindestens bis zur Schulter reichte.

      Wer will schon ständig daran erinnert werden, für immer wie ein 13-Jähriger auszusehen?

      Vor dem Gemälde mit einer Gruppe von Musikern bleibt er stehen. Darunter, auf einer Kommode, liegt seine Geige, daneben lehnt Tante Udines Cello. Viktor seufzt und schiebt einen roten Samtvorhang beiseite. Zwei Särge stehen in der Gruft. Er geht auf den linken zu und streicht über das ins Holz geschnitzte Relief einer Frau.

      Tante Udine schläft darin, bis ihre Wunden verheilt sind.

      Wie lange das dauern wird? Jahre? Jahrzehnte? Diese verdammten Vampirjäger!

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