Alexander Grau

Hypermoral


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sich an den Interessen des aufnehmenden Staates zu orientieren hat, der bekommt umgehend den geballten Zorn der Empörten und Selbstgerechten zu spüren. Und da Moralisten in dem Bewusstsein leben, das Gute an sich zu vertreten, sind etwaige Kritiker zum verbalen Abschuss frei gegeben und werden, je nach Thema und Ausgangslage, als neoliberal, kapitalistisch, militaristisch, sexistisch oder zumindest als verantwortungslos gebrandmarkt.

      Damit trägt der grassierende Moralismus nicht nur zu einer intellektuellen Vereinfachung, sondern auch zu einer extremen Ideologisierung aller möglichen Debatten und Streitfragen bei. Seine rhetorische Schlagkraft und Vehemenz gewinnt er dadurch, dass er zum letzten Gewissheitsanker einer Gesellschaft wird, die tief verunsichert ist von der Kontingenz aller Institutionen und Sinnangebote. Allein der Glaube an das Gute scheint die letzte Gewissheit all jener zu sein, die ansonsten an gar nichts mehr glauben. Moral ist unsere letzte Religion. Das ist auch der einfache Grund dafür, dass die Kirchen ihrerseits Religion im Wesentlichen auf Moral reduziert haben.

      Entsprechend wird das Gute zum Fetisch unserer halbaufgeklärten Gesellschaft, zum Zaubermittel, das allein den Kontakt zu einer höheren Sinnwelt zu garantieren scheint. Doch Religionen kennen nur Fromme oder Ketzer, Gläubige oder Verblendete. So hält mit dem Moralismus eine manichäische Rhetorik Einzug in die gesellschaftlichen Debatten: es gibt nur noch Hell oder Dunkel, das Reich des Lichtes oder das der Schatten und den unbedingten Glauben an den heilsgeschichtlichen Sieg des Guten. Wer sich der herrschenden Moral und ihrer aufgeblasenen Selbstgewissheit verweigert, hat nicht einfach nur eine andere Meinung, er wird zum Häretiker. Der Moralismus wandelt sich zum Hypermoralismus, also der Utopie einer ausschließlich nach rigiden moralischen Normen organisierten Gesellschaft.

      I. D I E E R F I N D U N G D E R M O R A L

      NICHTS SPRICHT GEGEN MORAL. Sie macht das Leben angenehmer, leichter, weniger gefährlich und berechenbarer. Es beruhigt einfach enorm, wenn man nicht bei jeder Gelegenheit damit rechnen muss, von irgendeinem Zeitgenossen eins über den Schädel gezogen zu bekommen. Moral ist also überaus nützlich.

      Natürlich haben auch Tiere feste Regeln des Miteinanders. Allerdings befolgen sie diese instinktiv. Sie haben, soweit wir das wissen, nicht die Möglichkeit, anders zu handeln. Es gibt keine unkonventionellen Tiere. Sie handeln wie sie handeln, und ihre Fähigkeit zu lernen, ist ebenso begrenzt wie ihre Möglichkeit, ungewöhnliche Situationen vorherzusehen und sich auf sie einzustellen. Kurz: Tiere sind unfrei.

      Anders der Mensch. Zwar handeln auch Menschen instinktiv und nach fest eingeschriebenen Programmen, wie jeder bestätigen wird, der einmal versucht hat, sich gesund zu ernähren oder eine Diät zu machen. Doch allein die Tatsache, dass wir in der Lage sind, normative Ziele zu verfolgen, die unseren Instinkten widersprechen – also etwa auf Burger, Schokoriegel und Pommes Frites zu verzichten –, zeigt, dass Menschen in der Lage sind, sich Regeln zu setzen, die ihrer Natur entgegenstehen. Diese Form der Selbstbeschränkung nennt man Kultur. Kurz: Kultur ist Triebunterdrückung. Das wusste auch schon Freud.1

      Doch der Mensch ist schwach und seine Instinkte stärker als gedacht, insbesondere wenn es um Selbstbehauptung geht, um Nahrung und um Sex. Also hat er sich Regelwerke geschaffen, deren Unbedingtheit weit über die anderer kultureller Regeln hinausgeht. Diese exklusiven Regelwerke nennen wir Moral.

      Moral hat also eine doppelte Aufgabe: Sie hilft uns, mit unserer Freiheit umzugehen und zugleich unsere Triebe zu kanalisieren. Deshalb hat jede Kultur solche exklusiven moralischen Regeln. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass solche moralischen Regeln zumeist jene Bereiche betreffen, in denen unsere biologischen Instinkte besonders ausgeprägt sind: Sex, Nahrung und Gewaltanwendung.

      Also kennen alle menschlichen Kulturen Speisevorschriften, eine mehr oder minder restriktive Sexualmoral und klare Regeln für die Ausübung von Gewalt – entsprechende soziale Sanktionen inklusive. Solche moralischen Regelwerke sind natürlich kein Selbstzweck, und vom Himmel gefallen sind sie auch nicht. Ihr Sinn und Ziel ist es, dem Menschen dort unhinterfragbare Handlungsregeln an die Hand zu geben, wo seine reduzierten Instinkte versagen. Moral ist evolutionsbiologischer Instinktersatz und Freiheitskompensation.

      Der Vorteil solcher nicht instinktgebundener Sozialregeln liegt auf der Hand: Sie machen den Menschen anpassungsfähig. Anders als ein Tier, kann der Mensch sich in den unterschiedlichsten Lebensräumen zurechtfinden. Menschen siedeln im Polarmeer und in den großen Wüsten, an der See und im Hochgebirge, im Dschungel und in der Steppe. Sie sind in der Lage, in kleinen Clans durch die Savanne zu streifen und in hoch technologisierten Millionenstädten zu wohnen. All das wäre mit einer rigiden Instinktausstattung allein nicht zu bewerkstelligen. Um sein Verhalten solch unterschiedlichen Lebenswelten anzupassen, braucht der Homo Sapiens ein Regelwerk, das sich geschmeidig den jeweiligen Umständen anpasst und gegebenenfalls umgeschrieben werden kann, wenn sich die Umweltbedingungen ändern.

      Das zwangsläufige Ergebnis: So unterschiedlich die Lebensbedingungen der Menschen sind, so sehr unterscheiden sich ihre Moralvorstellungen. Was in einer postindustriellen Millionenstadt sinnvoll sein kann, etwa serielle Monogamie, würde in einem Nomadenstamm zu einer sozialen Katastrophe führen. Daher gilt: Was in der einen Kultur erlaubt ist, ist in der anderen verboten. Was die eine Kultur gutheißt, ist in einer anderen eine Todsünde. Moral gibt es nur im Plural.

      Doch moralische Konflikte entstehen zunächst nicht zwischen verschiedenen Kulturen, sondern vor allem innerhalb einer Moralgemeinschaft: Denn zum Phänomen Moral gehört, dass man sich gegen sie entscheiden kann. Wo Moral ist, ist Unmoral nicht weit. Gerade weil Moral unsere Handlungsoptionen vervielfachen soll, haben wir die Möglichkeit, uns gegen sie zu entscheiden.

      Auf den ersten Blick erscheint das paradox. Ist es aber nicht. Wären moralische Regeln ähnlich unveränderbar wie Instinkte, bräuchten wir sie nicht. Moral ist dafür da, um hinterfragt zu werden. Sonst wäre sie überflüssig.

      Für das Überleben der Menschheit und ihre Anpassungsfähigkeit an neue Lebensbedingungen bedarf es also des Sünders, zumindest des Nonkonformisten. Ohne Unmoral wäre die Menschheit längst ausgestorben. Denn die permanente Neigung des Menschen, es mit der Moral nicht so genau zu nehmen, zu heucheln oder auch mal Fünfe gerade sei zu lassen, ist im Einzelfall vielleicht nicht schön, sorgt aber dafür, dass moralische Normen einer dauernden Revision unterzogen werden: Ist es wirklich sinnvoll, keinen Sex vor der Ehe zu haben? Bedarf es tatsächlich eines strengen Ehrenkodexes, der Familien zu Rachehandlungen verpflichtet? Welche Eigentumsansprüche sind gerechtfertigt und welche nicht?

      Erst das Brechen der Moral sorgt dafür, dass moralische Regeln permanent nachjustiert werden.

      Allerdings darf es die Moralgemeinschaft den Nonkonformisten nicht zu leicht machen. Eine Moral, die jederzeit über Bord geschmissen werden kann und auf Verfehlungen mit übergroßer Nachsicht reagiert, erfüllt ihren Zweck genauso wenig wie moralische Orthodoxie. Das macht Moral mitunter so anstrengend und führt dazu, dass sich zu jeder Zeit und in jeder Kultur Traditionalisten und Modernisierer, Spießer und Hallodris gegenüberstehen. Je vielschichtiger eine Gesellschaft ist, desto größer ist die Kluft zwischen den verschiedenen Lagern. Und desto mehr Lager gibt es.

      Doch nicht nur aufgrund innerer und äußerer Veränderungen einer Gemeinschaft sind deren Moralvorstellungen permanenten Spannungen ausgesetzt. Auch dort, wo zwei unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen, kommt es naturgemäß zu Konflikten. Denn das oberste Gebot jeder Moral lautet: Du sollst keine andere Moral haben neben mir.

      Moralen sind nicht pluralistisch und nicht tolerant. Das wäre widersinnig. Moralen sind autoritär. Sonst erfüllen sie nicht ihre Funktion. Deshalb unterliegen sie einer bipolaren Logik: wahr oder falsch, erlaubt oder verboten. Dazwischen gibt es wenig. Moralische Laissez-faire ist nicht der Standard, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Krisen. Freundlicher ausgedrückt: von Veränderungen. Nur in Gesellschaften, die sich der permanenten Veränderung und dem auf Dauer gestellten Fortschritt verschrieben haben, wird moralische Toleranz selbst zur Moral. Doch dazu später.

      Der Kontakt mit anderen Kulturen konfrontiert Moralsysteme mit ihrer eigenen Relativität, also mit etwas, was sie nicht akzeptieren können. Das liegt in ihrem Selbstverständnis. Eine Moral, die andere moralische Haltungen neben sich akzeptiert,