Christoph Türcke

Jesu Traum


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Dienstleister für Taufe, Kommunion, Konfirmation, Heirat, Beerdigung und zu hohen kirchlichen Feiertagen in Anspruch, ohne von der Bibel, der Liturgie, dem Katechismus oder den Dogmen noch irgendeine zusammenhängende Kenntnis zu haben. Zurückgeblieben sind ein paar Wissensbruchstücke und einige verwaschene Überzeugungen über eine höhere Macht und ein Leben nach dem Tod, die die meisten gern für sich behalten, um sie keiner peinlichen Befragung auszusetzen. Ansonsten richten sie sich, wie andere Gläubige und Ungläubige auch, nach den profanen Gesetzmäßigkeiten und Mächten ein, die ihren Alltag tatsächlich bestimmen.

      Das in der westlichen Welt praktizierte Christentum ist, aufs Ganze gesehen, hohl und morsch. Nicht so das in der westlichen Welt sedimentierte Christentum. Es gehört zum Fundus dieser Welt. Einst, als es noch groß und mächtig war, hat es die Weichen zur europäisch-nordamerikanischen Moderne gestellt. Mehr als ein halbes Jahrtausend ist das her. Das Christentum von damals ist bloß noch die Ablagerung einer vergangenen Zeit, gleichsam der festgetretene, beruhigte Untergrund, auf dem sich das unruhige Leben der Moderne abspielt. Und solange der Untergrund tatsächlich ruhig blieb, ließ er sich bequem ignorieren. Seit jedoch ein neuer Ost-West-Konflikt Platz gegriffen hat, worin »Osten« nicht mehr mit Sozialismus assoziiert wird, sondern mit einem Islam, der forsch in die westliche Welt eindringt und deren Grundüberzeugungen in Frage stellt, stehen auch die christlichen Fermente dieser Welt erneut zur Debatte. Das authentische westliche Gegenstück zur Koranlesung ist nun einmal die Bibellesung, nicht die Dichterlesung; das zum Ramadan die christliche Fastenzeit, nicht die Schlankheitskur; das zum Freitagsgebet der Sonntagsgottesdienst, nicht die Gymnastikstunde; das zum Propheten Mohammed heißt Jesus von Nazareth, nicht Michael Jackson oder Madonna.

      Und so geschieht etwas, was niemand voraussehen konnte: Durch die neue Präsenz des Islam in der westlichen Welt wird deren christlicher Untergrund wieder aufgerührt. Gerade Zeitgenossen, die auf Aufklärung und Gedankenfreiheit pochen und durchaus nicht zum christlichen Glauben zurückwollen, sehen sich durch die islamische – zum Teil islamistische – Offensive genötigt, sich zu jenem abgelagerten Christentum, um das sie sich lange nicht kümmern mußten, erneut zu positionieren. Dadurch aber kommt es sozusagen wieder hoch und gewinnt eine neue, diffuse, gewissermaßen desedimentierte, in ihrer Tragweite noch schwer absehbare Präsenz. Sitzt es womöglich viel tiefer im vegetativen Nervensystem der westlichen Welt, im Empfindungs-, Vorstellungs- und Denkhaushalt ihrer Individuen, als bisher gedacht? Friedrich Nietzsche hat das ja schon vor mehr als hundert Jahren vermutet: »Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!«1 Und nun stellt der neue Ost-West-Konflikt tatsächlich die »Eingeweide« der westlichen Welt mit nie gekannter Dringlichkeit zur Debatte und schürt den Verdacht, daß der Geist des Christentums sie weit stärker durchweht und bläht, daß er für den Stoffwechsel der High-Tech-Welt weit konstitutiver ist, als die hektische Oberfläche ihres Alltags zu erkennen gibt. Um hier Klarheit zu gewinnen, bedarf es einer neuen Eingeweideschau auf der Höhe wissenschaftlicher Methodik, anders gesagt, einer Tiefenhermeneutik mit Fingerspitzengefühl für mentale Verdauungsprozesse und Ablagerungen.

      Doch halt: Um die christlichen Eingeweide der westlichen Welt analysieren zu können, muß man erst einmal einen tiefen Blick in die Eingeweide des Christentums tun. Ja, auch das Christentum hat Eingeweide. Unter der Haut seiner wahrnehmbaren Gestalten pulsiert sein vegetatives Innenleben. Anders gesagt: Hier schweifen seine Wünsche. Wünschen ist die primitivste, affektivste, aber auch intensivste Form von Denken, und das Christentum ist auf eine geradezu inständige Weise wishful thinking. Seine ältesten erhaltenen Zeugnisse, die neutestamentlichen Schriften, sind allerdings nur die Außenseite seines inneren Wunschlebens. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie beim Traum. Was wir als Traum erleben und erzählen, ist nur dessen Fassade. Das Entscheidende spielt sich dahinter ab. Dort wirken die sogenannten latenten Traumgedanken. Das sind jene Wunschkräfte, die den Traum konstituieren und sich dabei in seinem manifesten Inhalt sowohl ausdrücken als auch verstecken. Ihre Entdeckung war eine der bahnbrechenden Leistungen Sigmund Freuds. Er hat ein ganzes Instrumentarium entwickelt, um den Wunschherd des Traums zu erschließen. Seine Methode wird sich in diesem Buch als verblüffend hilfreich erweisen, um an den Wunschherd des Christentums heranzukommen und das, was daraus aufstieg, als geschichtsträchtige und -mächtige Wachtraumgebilde wahrzunehmen.2 Genau genommen gibt es hier zwei Wunschherde. Sie flackern ineinander, sind aber wohl zu unterscheiden. Der eine glühte in den Hinterbliebenen Jesu und bewog sie, ihren gekreuzigten Herrn und Meister als auferstanden zu verkünden. Der andere brannte in Jesus selbst. Der eine bewirkte den christlichen Traum von Jesus, der andere Jesu Traum. Die neutestamentliche Wissenschaft hat ihre Quellentexte zwar bis zum Überdruß ausgelegt und ausgelaugt, aber bis zu den latenten Traumgedanken des Christentums ist sie noch kaum vorgedrungen.

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