so schmählich versagen: Klimaschutz, Umwelt, Hunger, Waffenhandel, Ressourcen- und Energie-Verschleuderung bei dramatisch wachsender Weltbevölkerung. Sie können sich dabei – wenn sie es wollen – auf den zu unrecht vergessenen Vordenker Ulrich Sonnemann berufen.
Ekkehart Krippendorff Berlin, im Januar 2012
Wie frei sind die Deutschen?
Gespräch zwischen Ulrich Sonnemann und Dieter Hasselblatt (1964)
Dieter Hasselblatt: Herr Dr. Sonnemann, Sie leben in München; würden Sie gern woanders leben?
Ulrich Sonnemann: Es gibt manche Orte auf Erden, an denen ich von Zeit zu Zeit gern leben würde. So fahre ich etwa – meistens jetzt nur alle paar Jahre – immer wieder mal nach Amerika. Aber im ganzen hat es mich Zeit meines Lebens nach Deutschland gezogen und nach München. Also nehme ich an, daß es seine Gründe hat, auch seine existentiellen Gründe, von denen ich selbst ja gar nicht allzuviel zu wissen brauche, daß ich hier lebe.
Dieter Hasselblatt: Ja, Sie leben aber dann in einem Land, das Sie selber heftig attackiert haben – in Deutschland. Ungefähr gleichzeitig mit dieser ›Spiegel‹-Affäre, die uns alle beschäftigt hat, erschien Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹1. Dieses Land ist Deutschland. Diesem Land kann man, so sagen Sie, unbegrenzt viel zumuten. Für Sie, Herr Dr. Sonnemann, ist Deutschland also ein Land ohne »Rückgrat«2. Und trotzdem haben Sie sich dazu entschlossen, hier zu leben. Ist das kein Widerspruch?
Ulrich Sonnemann: Das ist wahrscheinlich ein Widerspruch, aber, wie ich hoffe, doch einer, den ich ziemlich leicht auflösen kann. Denn für meine Begriffe gehört es eben zu der Loyalität gegenüber einem Volk, einer Gesellschaft, der man entstammt, daß man Zustände, die etwas Intolerables in sich haben und von denen gezeigt werden kann, daß sie dies haben, daß man diese Zustände attackiert und nach seinen Kräften sich bemüht, für ihre Besserung zu sorgen.
Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ nannte Sie im April 1963 Deutschlands »Nationalpsychologen«3. – Sie sind 1912 in Berlin geboren, studierten in Deutschland, in der Schweiz, promovierten 1934 in Basel. Durch das Hitler-Regime wurden Sie gezwungen, Deutschland, und dann durch die Kriegsereignisse auch Europa zu verlassen. In den USA waren Sie als klinischer Psychologe und Professor für Psychologie in New York tätig. Sie machen hier bei uns keinen Gebrauch von Ihrem Professoren-Titel?
Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in eine Situation komme, in welcher ich von diesem Professoren-Titel Gebrauch machen, auf eine praktische Weise Gebrauch machen kann, insofern ich in einer solchen Situation meine Lehrtätigkeit eben wieder ausüben würde. Aber gerade das Fach, in dem ich sie in Amerika ausübte, ist gegenwärtig von geringerem Interesse für mich. Psychologie war ursprünglich in der Kombination meiner Studienfächer auch durchaus Nebenfach. Es waren wieder mehr Gründe in meiner Existenz-Situation in den frühen Vierzigerjahren, die mich bewogen, drüben die Karriere eines klinischen Psychologen zu ergreifen, der ich allerdings manches verdanke; unter anderem auch eben Einblicke in die Grenzen der klinischen Psychologie und der Psychologie überhaupt.
Dieter Hasselblatt: Sie haben, glaube ich, einige Bücher in diesem Arbeitsbereich, aus diesem Erfahrungsbereich veröffentlicht drüben?
Ulrich Sonnemann: Ja, das letzte war ›Existence and Therapy‹4. Das hat auch in Europa am meisten gewirkt, so um die Mitte der Fünfzigerjahre.
Dieter Hasselblatt: Dann waren Sie aber schon zu uns hier nach Deutschland wieder herüber gekommen?
Ulrich Sonnemann: Das war etwas bevor ich nach Deutschland zurückkam. Ich kam nach Deutschland zurück – nachdem ich vorher schon einmal besuchsweise hier gewesen war, 1950 – im Jahre 1955, und das Buch war 1954 erschienen.
Dieter Hasselblatt: Ja, würden Sie sagen, daß also dieses Wort des ›Spiegels‹– Sie sind Deutschlands »Nationalpsychologe« – boshaft gemeint ist? Oder stimmt das irgendwo?
Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob es boshaft ist. Ich bin nicht einmal sicher, daß es boshaft gemeint ist, und noch nicht einmal, daß es nicht stimmt, aber ebensowenig, daß es stimmt. Es ist eigentlich eine Frage, die ich lieber meinen Biographen überlassen würde, sollte es solche jemals geben. Mich selbst interessiert sie eigentlich wenig.
Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ prophezeite damals, daß Ihr Verlag »Schwierigkeiten« mit dem Absatz dieses Buches haben würde5. Und beim Lesen Ihres Buches gibt es ja gewisse Schwierigkeiten, weil Sie einen nicht sehr gefälligen und nicht sehr journalistischen Stil schreiben. Sie schreiben einen Stil, der gewisse Schwierigkeiten bringt. Und trotzdem hat sich die Prognose nicht bewahrheitet: Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹ hat sich eine ganz lange Zeit auf den Bestseller-Listen gehalten. Wie erklären Sie sich das?
Ulrich Sonnemann: Ja, nicht ich bedarf ja in diesem Fall der Erklärung, da ich an jener Prognose gar nicht teilgenommen hatte. Der ›Spiegel‹ war da in der Gesellschaft mancher anderer, die auf die gleiche Weise und im gleichen Sinn geirrt haben. Es ist wahrscheinlich richtig, daß das Buch sehr wenig journalistisch geschrieben ist. Ich weiß bereits nicht, ob es nicht gefällig geschrieben ist; das bedeutet ja, daß es nicht gefällt, aber anscheinend hat es doch gefallen.
Dieter Hasselblatt: Sie sagen in diesem Buch, die Bundesdeutschen »verdienen« ihren demokratischen Staat nicht. Sie sollten »wahrnehmbar Freie« sein, und Sie nehmen diese Freiheit nicht wahr.6
Ulrich Sonnemann: Ich nehme diese Freiheit als spontane Eigenschaft der Menschen selber allzu wenig wahr in Deutschland. Die Freiheit scheint mir auch und gerade in der Bundesrepublik, in diesem Sinn sogar nur in der Bundesrepublik, Institution zu sein, eine von westlichen Demokratien übernommene Einrichtung. Die Freiheit als Eigenschaft der Menschen selber finde ich allzu wenig.
Dieter Hasselblatt: Und Sie wohnen trotzdem in diesem Land hier, in dem es so wenig Freiheit, verwirklichte Freiheit gibt?
Ulrich Sonnemann: Nun, die Freiheit als Institution besteht ja, und was diese andere betrifft, so kann man ganz gewiß als Schriftsteller, als Publizist für sie kämpfen. Man kann zunächst selbst, soweit man sie hat, von ihr Gebrauch machen, insofern unter Umständen sogar eine Art Modell setzen.
Dieter Hasselblatt: Sie betrachten sich also selbst als einen jener Literaten, von denen Sie in Ihrem Buch sagen, die Literaten seien heute die »Gewissensträger der Öffentlichkeit«7?
Ulrich Sonnemann: Nicht nur heute, das scheint mir jedenfalls in der ganzen neueren europäischen Geschichte, aber auch bereits im alten Griechenland – jedenfalls in späteren Zeiten – doch mindestens eine sehr bestimmende Seite an der Existenz der Literaten überhaupt zu sein. Es gilt ganz gewiß für Frankreich, das in diesem Punkt vorbildhaft ist.
Dieter Hasselblatt: Und Sie sagen in Ihrem Buch, daß sich die Literaten als »Gewissensträger der Öffentlichkeit« ein »dialogisches« und kein »cliquierendes Verhalten« schuldig sind8. Meinen Sie dabei Cliquen wie die Gruppe 47?
Ulrich Sonnemann: Ich kann mich erinnern, daß, als ich das schrieb, ich an die Gruppe 47 zunächst gar nicht dachte. Dann fiel mir ein, nachdem ich es bereits niedergeschrieben hatte, daß vielleicht der Leser an die Gruppe 47 denken könnte und daß es eben zu Fragen kommen würde wie Ihre gegenwärtige, was ich begrüße, weil da vielleicht wirklich etwas zu klären bleibt. Ich glaube nicht, daß essentiell die Gruppe 47 eine Clique ist. Dazu ist sie zu offen nach außen hin; dazu gehen die Meinungen innerhalb der Gruppe in allen möglichen Dingen viel zu weit auseinander. Wenn sie in den Geruch einer Clique immer wieder gerät, so liegt das meiner Ansicht nach darin, daß eben eine Öffentlichkeit überhaupt, die diese Gruppe auffangen könnte, die ihr gewachsen wäre, die sie integrieren könnte, in Deutschland fehlt.
Dieter Hasselblatt: Sie sehen also bei unseren Nachbarn in Europa mehr öffentliches Bewußtsein und mehr Öffentlichkeitsgewissen als bei uns?
Ulrich Sonnemann: Ja, das sehen Sie wahrscheinlich