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Zwei-Wort-Politik
Anhang
Einleitung
Es war im Jahr 1993, als sich die junge Politikerin Angela Merkel eindeutig festlegte: Die Bundesrepublik habe zwar im Jugoslawien-Krieg zehnmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie vergleichbare EU-Staaten. Manche Menschen in Deutschland seien sicherlich verunsichert und sähen die ersten Anzeichen einer großen Wanderungsbewegung »der Not und des Elends unserer Zeit«. Einige ließen sich auch von der Demagogie rechter Ideologen verführen. Man habe das Asylrecht zu Recht verschärft und schicke Menschen ohne Bleiberecht wieder zurück in ihre Heimat. Aber eines sei ebenfalls klar: »Auch jetzt und in Zukunft gewähren wir Menschen Asyl, die tatsächlich verfolgt werden«, betonte die junge Ministerin und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende damals mit Entschiedenheit.
Das war im Jahr 1993. 23 Jahre später, bei der Entstehung dieses Buches im Jahr 2016, bin ich immer noch verblüfft über die Parallelen der Flüchtlingsdebatte in den neunziger Jahren und heute – und über den um sich greifenden kollektiven Gedächtnisverlust. Denn wie man auch immer zur Flüchtlingspolitik Merkels und der Bundesregierung steht: Überraschend war im Jahr 2015 vielleicht das Ausmaß der Wanderungsbewegung in die EU. Aber der Umgang Merkels mit der Krise war alles andere als erstaunlich. Ein Blick in ihre frühere Amtszeit als Jugend- und Frauenministerin, als Umweltministerin sowie auf ihre 2005 begonnene Kanzlerschaft zeigt das. Sowohl ihre inhaltliche Positionierung als auch die Art ihres Vorgehens entsprechen in großen Teilen einer seit vielen Jahren verfolgten politischen Linie und dem persönlichen Stil der ostdeutschen Protestantin.
Deshalb ist dieses Buch entstanden. Fast jeder hatte eine feste Vorstellung der mittlerweile 62-Jährigen, ganz gleich, ob positiv oder negativ. Erst die Euro- und dann die Flüchtlingskrise haben die festgefügten Urteile über die laut Forbes »mächtigste Frau der Welt« nachhaltig erschüttert. Also häufen sich wieder die Fragen: Was wissen wir eigentlich über diese Kanzlerin? Was treibt sie an? Wie passt der jahrelange Vorwurf des Zauderns und der Vermeidung von Risiken zu der entschiedenen, nach Meinung ihrer Gegner sogar »sturen« Haltung der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise? Wieso engagierte sich Merkel so ungewöhnlich stark in der Ukraine? Ist sie nun überzeugte Europäerin oder nicht? Was heißt eigentlich ›merkeln‹?
Angesichts einer sich mittlerweile über drei Legislaturperioden erstreckenden Kanzlerschaft beschäftigen viele aber auch Alltagsfragen: Wie behauptet sich Merkel überhaupt so lange in der Welt der mächtigen Männer? Wie funktionieren die vielen Auslandsreisen, die sie macht? Wo und wie arbeitet sie? Und warum nur stehen zwölf übergroße Schachfiguren in ihrem Büro im Kanzleramt?
Auch deshalb lohnt ein neuer Blick. Denn international hat sie mittlerweile einen neuen Kultstatus erreicht. Anders als früher polarisiert Merkel zudem. Gerade in der Flüchtlingskrise ist sie für die einen zum Vorbild, für die anderen zum Feindbild geworden. Die Spanne reicht von der Flüchtlingsmutter aus Ghana, die ihrer in Hannover geborenen Tochter den Namen ›Angela Merkel‹ gegeben hat (auch wenn dieser durch den Nachnamen Adé ungewollt zweideutig wird) bis zum republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der sich immer wieder an ihr abarbeitet. Und anders als früher verschwimmen bei den Urteilen die Parteigrenzen: Einige Unions-Politiker attackieren sie in aller Schärfe. In rot-grünen Kreisen leuchten dagegen plötzlich bei dem einen oder anderen die Augen, wenn von der Kanzlerin die Rede ist.
Grundthese dieses Buches ist, dass die promovierte Physikerin alles andere als eine ›Sphinx an der Spree‹ ist, also eine geheimnisvolle, kaum zu entschlüsselnde Politikerin. Obwohl sie sich in Auftreten, Inhalt und Stil immer noch deutlich von ihren zumeist männlichen Kollegen unterscheidet, ist Merkel sehr gut ›lesbar‹. Man muss sich allerdings die Mühe machen, hinzuschauen und hinzuhören.
Genau dies ist mein täglicher Job. Als ›Kanzler-Korrespondent‹ der