Chris Inken Soppa

Ring der Narren


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Mit dem Zeigefinger strich sie sich vorsichtig über das linke Ohrläppchen. „Nur bitte nicht daran ziehen, die kleben teilweise an den Haaren fest, und das zerrt ganz fürchterlich.“

      „Hübsch.“ Milton betrachtete sie wohlwollend. „Leider habe ich Angst vor dem Herrn der Ringe, sonst hätte ich mir alle drei Filme angesehen und Sie sicher wieder erkannt.“

      „Keine Bange. Ich bin nur eine kleine Statistin, und das sogar in meinem eigenen Leben.“

      „Die Größe liegt im Auge des Betrachters.“ Milton wunderte sich nicht über ihre plötzliche Niedergeschlagenheit. Sie passte zu seiner eigenen. Er sah, wie sich Viktor noch immer um Elfenkraut bemühte. Die Verehrerinnen trippelten wie nervöse Kanarienvögel vor den beiden auf und ab. Eigentlich sollte er Viktor helfen. Doch er hatte keine Lust dazu. Stattdessen kramte er das Absinthfläschchen aus der Handtasche und reichte es der Elbin.

      „Wollen wir durchbrennen?“

      Sie nahm einen kräftigen Schluck, dann rückte sie sich die spitzen Ohren zurecht, die vom Faschingstrubel schon ein bisschen verbogen wirkten, und wies auf eine Gruppe älterer Herrschaften in sichtbar lustlos zusammengetragenen Kostümen aus Tchibo-Beständen. Alle drängelten sich gierig um den Glühweinstand, als hätten sie den Zwischenfall von eben längst vergessen.

      „Ich muss die da noch in einer Weinstube abgeben“, sagte die Elbin. „Aber dann habe ich frei.“

      Die Elbin hieß Renée. Zur Fastnachtszeit geleitete sie Touristen durch die mittelalterliche Innenstadt, um ihnen den heimischen Narrenkult näher zu bringen. Ihre Route führte zu sämtlichen Blaskapellen, Fanfarenzügen und Fahnenschwingern der Gemeinde. Zahlenden Fremden erklärte sie auch den traditionellen Sturm auf das Rathaus und die obligatorische Verschleppung des Bürgermeisters, der von den Narren erst in ein robustes Netz gewickelt und dann durch die Gassen in irgendeine dunkle Beiz seiner Wahl geschleift wurde, wo er sich auf Kosten der Stadt ungestört volllaufen lassen durfte. Das alljährliche Ritual wurde von den Touristen mit Neid und Anerkennung beobachtet.

      „Die werden alles gutheißen, solange es nur nach Brauchtum riecht“, sagte Renée und wies auf die dunkle Vertäfelung der Besenwirtschaft, in der sie saßen. Verschiedene Schnitzereien an der Wand stellten mittelalterliche Folterszenen dar. „Ich glaube, in den tollen Tagen könnten wir sogar öffentliche Hinrichtungen durchführen. Wenn in den städtischen Annalen geschrieben steht, dass sich hier einst die Scharfrichter in der Technik des Hängens und Würgens geübt haben, gibt es doch keinen Grund, diese wundervolle Tradition nicht wenigstens in der Fasnet wieder aufleben zu lassen.“

      Milton lachte. „Die Kinder wären bestimmt begeistert! Dafür würden sie jedes World of Warcraft-Computerspiel links liegen lassen. Wussten Sie eigentlich, dass dreiundsiebzig Prozent der deutschen Jugendlichen dafür sind, die Todesstrafe wieder einzuführen? Dazu haben sie neulich im Internet eine Umfrage gemacht.“

      „Das hat wohl weniger mit Traditionsbewusstsein als mit Langeweile zu tun“, erwiderte Renée. „Jemanden mit dem Wii-Controller erstechen und den Bildschirm abschalten, sobald die Sauerei zu groß wird. So stellen sie sich das vor. Aber es hat keinen Stil.“

      „Von ihren Eltern haben viele nichts anderes gelernt“, gab Milton zu bedenken.

      Renée fixierte ihn mit Röntgenaugen und schwenkte gleichzeitig ihr Weinglas, bis der heimische Rote fast den Rand erreichte. „Sie haben keine Kinder, oder? Aber sei’s drum. Die Welt braucht mich heute nicht mehr, und hier wird mich niemand finden. Wir sollten also noch was trinken.“

      Milton winkte einer betagten Kellnerin im Varietékostüm, die sich einen großen freundlichen Mund über ihren grimmigen eigenen gepinselt hatte, und bestellte zwei weitere Rote.

      „Warum möchten Sie denn nicht gefunden werden?“, wollte er wissen.

      „Diese Frage ist mir zu persönlich. Sie hören sich an wie mein Heilpraktiker.“

      „Vielleicht bin ich ja einer“, schlug Milton vor.

      „Vielleicht. Obwohl, als Sie da neulich in meinen Laden spaziert kamen, da dachte ich eher, der Geheimdienst hätte Sie geschickt.“

      „Oh!“ Milton war ehrlich überrascht. „Ich bin eben unauffällig. Ein richtiger PhysioGnom. Aber Sie … Sie haben also etwas zu verbergen. Würde es sich für mich lohnen, Sie zu verraten?“

      „Das würden Sie tun?“ Die Elbin betrachtete ihn interessiert.

      „Wie hoch ist denn das Kopfgeld, das man auf Sie ausgesetzt hat?“

      „Phantastisch hoch“, erwiderte die Elbin. „Allein mit den Zinsen kann man sich ein schönes Leben machen.“

      Als Milton am frühen Morgen nach Hause kam, saß eine Frau vor seiner Wohnungstür. Sie war sehr hager, ihr Faschingskostüm erinnerte an Sylphen oder Trollmädchen. Roter Filzrock bis zu den Schuhen, ein lila Hemd, dessen Trompetenärmel ihr über die Hände fielen. Glatte weißkrautfarbene Haare. Ein grünes Halstuch mit schwarzen Sonnensymbolen. Die Farbe ihrer Augen rundete ihren bunten Aufzug perfekt ab.

      Ihre Augen waren blau. Geschlagen.

      Milton, der gerade seinen Wohnungsschlüssel aus der Handtasche ziehen wollte, sah betreten zu Boden. Misshandelte Frauen kannte er aus der Zeitung und aus den Abendserien im Fernsehen. Er besaß eine kultivierte und wohlausgewogene Meinung zu Frauenhäusern, prügelnden Ehemännern und archaisch-patriarchalischen Ehrenmördern mit deutschem Pass. Doch offenbar hatte Milton bisher ein sicheres Nischenleben geführt, denn aus der Nähe hatte er eine verprügelte Frau noch nie gesehen. In seinem Drag-Queen-Outfit kam er sich auf einmal lächerlich vor.

      „Alles in Ordnung?“

      Mit Daumen und Zeigefingern drückte sie sich die verquollenen Augenlider auseinander, um ihn anzusehen. Sie wirkte verwirrt. Ihr Mund war ein kleiner, trauriger, dunkelroter Fisch, der in der großen Weite ihres weißen Gesichts nicht mehr nach Hause fand.

      „Ich will zu Milton Meier“, flüsterte sie. „Er ist …“ Sie stockte.

      „Sind Sie sicher? Milton Meier?“ Die Eindeutigkeit seines Namens überraschte ihn selbst.

      „Ich weiß, es ist unhöflich. Zu dieser Zeit …“

      „Fast fünf Uhr morgens“, bestätigte Milton. „Doch das hat in den tollen Tagen nichts zu sagen.“ Er tastete erneut nach seinem Schlüssel und bekam ihn endlich zu fassen. „Aber kommen Sie doch herein.“

      „Und Sie sind …?“ Die Frau blickte auf seine geöffnete Wohnungstür und hielt sich noch immer mit Daumen und Zeigefingern die Lider auseinander.

      „Milton Meier, sehr erfreut.“ Milton streckte ihr seine rechte Hand mitsamt der baumelnden Tasche entgegen. „Ich habe mich heute als Ringelnatz-Anbeterin verkleidet. Fürs wahre Leben finde ich Ringelnatz allerdings zu derb. Ihr Kostüm ist aber auch nicht schlecht. Was soll es darstellen?“

      „Derb …“, wiederholte die Frau und stolperte ungelenk gegen den Türrahmen. Sie war ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen vollständigen Satz über die Lippen zu bringen.

      Eine halbe Stunde später lag sie fest schlafend in Miltons Bett, während er unerwartet nüchtern und ohne Hintergedanken auf einem seiner Sperrmüll-Sessel saß und sich fragte, was sie bei ihm wollte. Als Schutzschild vor einem Halsabschneider-Ehemann oder einem stechwütigen Vater würde er ihr kaum dienen können, dafür war er zu feige und schwerfällig. Aber sie kannte seinen Namen. Milton Meier war offenbar weniger einzigartig als angenommen. Sonst müsste er sich Sorgen machen. Milton erhob sich leise und holte seinen Laptop, um nachzusehen, was das Internet über ihn wusste. In den Weiten des Netzes gab es zahllose Miltons, doch keine der Suchmaschinen landete einen Treffer. Vielleicht war er tatsächlich nicht auffällig genug. Leute, die sich mit aller Macht daneben benahmen, sich in U-Bahnen entblößten, den Kot ihrer Hunde nicht beseitigten oder sich in Gegenwart ihrer Neugeborenen eine Zigarette anzündeten, solche Leute konnten für den Rest ihres Lebens am Internet-Pranger landen, wenn sie Pech hatten.