Susanne Rüster

Schneeflöckchen, Mordsglöckchen


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gelernte – oder waren es nur fünf? – durchschaute Rita die Sache schnell.

      Am unteren Ende schließlich, dort, wo sich die Arme des Leuchters spreizen, wo wiederum voluminöser Kabelsalat versteckt werden muss, da lässt eine üppige Quaste ihre tausend bronzefarbenen, goldenen oder jadegrünen Fäden über die hier umgekehrt trichterförmig geweitete Papprolle rieseln. Ein perfekter Übergang von Aufhängung zu Lampe.

      Rita wird ein paar Prototypen herstellen, einen in Cremefarben, einen in Bleu und vielleicht einen in Altrosé oder Silbergrau. Ab Hundertfünfzig Euro – Obergrenze offen – wird sie ihre maßgeschneiderten Lüsteraufhängungen verkaufen, je nach Größe und Ausführung. Und zwar auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloss.

      In drei Jahren wird sie reich sein. Vielleicht in fünf. Reich mit Einundsechzig. O.K. Ein Wohnzimmer mit richtig aufgehängtem Kristalllüster wird sie bewohnen. Die Glasvitrine wird eine neue Scheibe haben, und darin aufbewahrt werden nur noch makellose Gläser, Vasen und Schalen aus Bleikristall und Muranoglas. Keine angeschlagenen.

      Abends, wenn die bunten Lichter des Schlosses angehen, betreibt Rita Weihnachtsmarktforschung. Sie träumt, sie frohlockt. Ihr Produkt ist einzigartig. Ein neues Produkt aus dem Nichts. Von Null auf Hundert! Weil sie das Geheimnis der Papprollen kennt! Nächstes Jahr im Advent wird sie es lancieren. Das ist der Plan. Die Standgebühr wird teuer, aber sie wird sie bezahlen können, wenn sie bis dahin fleißig Klamotten verkauft. Kleider aus den 50er, 60er und 70er Jahren, vier Ständer voll stehen in ihrem Wohnzimmer bereit. Mit Hilfe der Schnittmuster der Jahrgänge 1961 bis 1969 wird sie exquisite Stücke daraus schneidern auf ihrer Singernähmaschine. Oder auf der Pfaff. Eine wird es tun.

      »Wissen Sie, ich helfe gern!« Siegessicher steht Frau Lautermüller mit ihren Pantoletten mitten im gefluteten Becken. »Und die alten Zeitungen nehmen wir auch gleich mit. Wenn man erst mal anfängt, geht es ganz fix, das Aufräumen! Sie werden sehen, es kann richtig Spaß machen!« Frau Lautermüllers Gesichtszüge haben sich aufgehellt.

      Dieses Zeug aus Ritas Jugendzeit verkauft sich phantastisch über Ebay. Wenn sie den Computer auf hundert – oder tausend? – Megabite aufrüstet, dürfte es kein Problem mehr sein, das Internet des Nachbarhauses anzuzapfen. Ersatzteile aus insgesamt sechs oder sieben PCs liegen im Schlafzimmer bereit.

      »Wirklich! Richtig Spaß!« Frau Lautermüller stößt mit ihrem Bauch an die Bananenkisten, mit ihrem Hintern an die Zeitungsstapel. Jetzt bemerkt sie den Kranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie in ihrer Hand. Sie dreht sich einmal um sich selbst, findet keine Ablagefläche. Die Sache mit der Reißzwecke hat sie wohl aufgegeben. Sie hängt den Kranz an die Türklinke. Von innen. Dann schließt sie Ritas Wohnungstür. Von innen. Klack.

      In Neukölln kannte Rita mal eine, die sich ihre Freundin nannte. Auch die hatte ihr angeboten, mit anzupacken beim Aufräumen. Lange Gespräche hatte diese Freundin mit ihr geführt. Termine bei einer Therapeutin wollte sie ihr sogar verschaffen. Die Freundschaft zerbrach.

      Frau Lautermüller greift nach den Zeitungen.

      »Halt!«

      Der Kampf entbrennt. Rita packt zu. Frau Lautermüller taumelt, fängt sich, gibt Rita einen kräftigen Schubs, die rudert mit den Armen, tritt rückwärts, stößt gegen die Kaiserstüte, heraus purzelt ein kobaltblauer Römerkelch und zerschellt.

      Heute Morgen, wie jeden Morgen seit dem ersten Advent, hat Rita in den Müllcontainern des Weihnachtsmarktes einiges Brauchbares gefunden. Und dann der Höhepunkt: Ein vollkommen intakter kobaltblauer Bleikristallrömer. Ein Omen. Sie wird reich sein.

      Ein helles Klingen. Ein schmerzvolles Klirren. Zerbrochen ist das Omen. Der Kelch, der Stiel, der Fuß, alles kullert über den Terrazzoboden unter Niveau der Kaiser-Friedrich-Straße. Unterhalb Aufpuffhöhe. Rita überlegt, mit welcher der Scherben sie sich die Pulsadern aufschneiden könnte.

      »Oh, das tut mir leid!« Frau Lautermüller nutzt den Moment der Schwäche. »Handfeger? Schaufel? In der Küche?«

      Das sind keine Fragen, das ist der Schlachtruf, mit dem sie die Tür zur Küche aufstößt und so mit ihrem Blick das nächste Becken flutet. Stapel von schmutzigem und sauberem Geschirr, Töpfen und Pfannen, Packungen Fertigklöße und Kartoffelpüree, Brillenetuis, Schuhe, Haarbürsten, aufgetürmte Blumentöpfe, hingeworfene Putzlumpen, Polycolor-Tuben und Computerteile. Ja, sie muss diese Computerteile zu den anderen Computerteilen ins Schlafzimmer räumen. Und sie muss die Ruhe bewahren. Nichts Wichtigeres gibt es jetzt zu tun. Kardinalfehler sind nur mit Ruhe zu korrigieren. Wenn überhaupt.

      »Ist nicht schlimm, Frau Lautermüller«, betet sie vor sich hin. »Ist nicht schlimm. Scherben bringen Glück. Schaufel und Besen? Ja, natürlich.« Sie schlüpft durch die Küchentür, vorbei an Frau Lautermüller, die starr steht vor dieser Offenbarung. Flink schiebt Rita dies und das beiseite, öffnet einen von drei Backöfen und fischt Handfeger und Schaufel heraus. Im Flur geht sie auf die Knie und fegt die Scherben zusammen. Fegt und fegt, fast blind vom feuchten Schleier vor ihren Augen.

      »Sie brauchen Hilfe«, sagt Frau Lautermüller und bringt den letzten Damm zum brechen. Rita entfährt ein tiefes Schluchzen. Tränen tropfen auf die Schaufel mit den Scherben.

      »Ja. Ich brauche Hilfe. Ja! Ja! Ja!«

      Ihr schmaler Rücken zuckt in kurzen Stößen.

      »Kommen Sie.« Frau Lautermüller packt sie vorsichtig bei den Schultern, nichts Drängendes ist mehr da. Über die Schaufel mit den Scherben gebeugt, lässt Rita sich in ihr Schlafzimmer führen und auf ihr Bett setzen, pfeifend auf alle Flutwellen. Frau Lautermüller greift nach der Schaufel mit den Scherben. Rita dreht sich weg, legt die Schaufel aufs Kopfkissen, den Stiel festhaltend, bettet ihren Kopf daneben und bleibt mit angezogenen Knien liegen.

      »Machen Sie ruhig einen kleinen Mittagschlaf.« Frau Lautermüller deckt sie zu.

      Rita hebt noch einmal matt den Kopf. »Wollen Sie mir wirklich helfen?«

      »Aber ja! Gern! Am besten, wir fangen in der Küche an. Gleich nachher.«

      Rita schüttelt den Kopf. »Morgen, Frau Lautermüller, morgen.«

      »Also gut, aber früh. Da ist man noch frisch. Da geht einem alles leichter von der Hand.« Frau Lautermüller tätschelt Ritas mahagonirotes Haar, das am Ansatz den gleichen Grauton wie ihres hat. Drei Monate hat Rita nicht nachgefärbt. Oder sind es vier?

      Unter halb geschlossen Lidern, durch die Scherben hindurch schaut Rita zum Fenster. Aus Auspuffhöhe fällt ein kobaltblaues Winterlicht zu ihr herunter.

      Sie hört, wie Frau Lautermüller ihre Wohnungstür, die sie vor ein paar Minuten – dreizehn oder fünfzehn – von innen geschlossen hat, wieder öffnet und von außen schließt. Leise.

      Bald darauf hört Rita ein zartes, ein beinahe liebevolles Hämmern. Es ist das Einhämmern von Reißzwecken, an denen Weihnachtskränze an Türen aufgehängt werden.

      Es ist schon fast dunkel, als Rita bei Frau Lautermüller klingelt. Das einzige Mal seit ihrem Einzug vor fast neun Jahren.

      Kauend öffnet Frau Lautermüller. Lächelnd schaut Rita auf den kauenden Mund mit den tiefen Mundwinkelfurchen und überreicht Frau Lautermüller eine Buttercremetorte mit Blaubeerfüllung.

      »Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!« Frau Lautermüller verschlingt die Torte mit ihrem Blick, in dem dieses ungebrochene Flutlicht leuchtet.

      »Doch, absolut nötig. Ohne Sie hätte ich aufgegeben. Das ist mein Dankeschön.«

      Frau Lautermüller wischt sich eine Träne aus dem speckigen Augenwinkel.

      »Auch für den schönen Weihnachtskranz.« Rita wendet sich zum Gehen, dann dreht sie sich noch einmal um. »Morgen früh?« Sie zwinkert Frau Lautermüller zu.

      »Ich bringe den General Bergfrühling mit! Sie werden sehen, wir drei schaffen das.« Frau Lautermüller zwinkert zurück.

      Der General. Rita hätte schwören können, dass es Meister Propper