Liselotte Welskopf-Henrich

Der siebenstufige Berg


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Mann anzusehen. Wann können Sie ihn herbeischaffen?«

      »Er wartet.«

      »Aha.«

      Carr gab seiner Sekretärin telefonisch Bescheid.

      Der fünfundzwanzigjährige Indianer trat ein. In einem rohlederfarbenen Hemd, dunklen Jeans, mokassingleichen Halbschuhen stand er vor dem Superintendenten. Er hatte den in der Gegend üblichen Cowboyhut abgenommen. Von seiner Erscheinung ging etwas wie ein Luftzug aus einer fremden Atmosphäre aus. Seine Haut war braun, das Haar schwarz.

      Carr musterte ihn länger, als er einen weißen und freien Stellungssuchenden gemustert hätte, denn der vor ihm stand, war ein Farbiger und ein Reservationsindianer, durch Gesetz unter Vormundschaft gestellt wie alle seine Stammesgenossen. Der junge Mann war groß gewachsen, schmalhüftig, nicht eben breitschultrig, ein Langschädel. Seine Hände waren schlank. Er stand da, ohne sich zu regen. Das gab Carr einen Gedanken ein.

      »Haben Sie gedient?«

      »Nein!« Die Stimme war dunkel und sehr gedämpft.

      »Warum nicht?«

      »Tuberkulose.«

      »Noch virulent?«

      »Ausgeheilt – nach dem letzten Kliniktest.«

      »Was Ihre Suche nach einem Job anbetrifft, Mahan, nun, wir haben nicht für jeden jungen Mann den gewünschten Kuchen bereit. Hier im Büro ist überhaupt keine Stelle für Sie frei.«

      Der junge Indianer sagte dazu nichts. Carr versuchte, in dem mageren Gesicht zu lesen, aber es wirkte wie eine ausdrucksleere Maske, und die Augen konnte Carr nicht in seinen Blick bekommen. Der Mann war ihm unangenehm. Unzugängliche Leute blieben immer verdächtig, und die Situation auf den Reservationen war gespannt. Carr beschloss, diesen Bewerber nicht aus der Kontrolle gleiten zu lassen, unter der er sich in Internat und College befunden hatte. Er wollte gleichzeitig Miss Bilkins durch praktische Erfahrungen, die sie in ihrem eigenen Ressort zu machen haben würde, belehren.

      Der Superintendent blätterte in Akten und fand, was er gesucht hatte.

      »Miss Bilkins, in der 3. Tagesschule ist eine Stelle als Erzieher für die Vorschulklasse frei. Der Bewerber hier spricht Englisch. Meinen Sie nicht auch, dass er es den Vorschulpflichtigen beibringen kann? Das denken Sie auch, nicht wahr? Nehmen Sie an, Mahan?«

      Der Indianer wartete die Länge eines Atemzuges, dann sagte er zu dem überraschenden Vorschlag sehr leise, aber verständlich: »Ja.«

      »Vielleicht noch den Sport dazu – nachmittags – Sie sind unverheiratet? – Also den Nachmittagssport an dem Internat, das mit der Tagesschule verbunden ist – sind Sie Sportsmann?«

      »Nein.«

      »Bei Ihrer Figur hätten Sie professioneller Sprinter, Langstreckenläufer oder Basketballer werden können, meinetwegen auch Rodeoreiter; dabei wären Sie eher gesund geblieben in Chicago. Nun, Sie sind ein Spätentwickler. Machen Sie mit fünfzig Jahren Ihre Goldmedaillen und Ihren Sieg im großen Rodeo von Calgary. Wie ein Cowboy sind Sie heute schon angezogen. In der Schule werden Sie aber in Zivil erscheinen. Der Friseur für Indianer hier hat seinen Laden linker Hand um die Ecke. Im Internat werden Sie Gelegenheit haben, sich die Haare regelmäßig schneiden zu lassen.«

      Der Indianer sagte nichts.

      »War es in Ihrem College gestattet, die Haare lang zu tragen?«

      »Ja.«

      »An unseren Schulen hier unterbleibt das.«

      »Ja, Sir.«

      Chester Carr hatte durchaus nicht gelächelt. Alle seine Bemerkungen waren keine Witze, sondern Tadel gewesen. Er nahm das »Ja, Sir« hin, obgleich er fühlte, dass ihn der Indianer damit ironisierte. Carr schloss die Unterredung ab, legte die Papiere zusammen und beiseite und bedeutete dem Indianer stillschweigend und unfreundlich, dass er zu gehen und draußen zu warten habe. Er selbst wollte noch einmal mit seiner Dezernentin sprechen.

      »Der Bursche gefällt mir immer weniger, Miss Bilkins. Besorgen Sie sich Informanten, die ihn laufend beobachten und Ihnen berichten.«

      Als die blonde Dezernentin für das Schulwesen nach dieser Anweisung das Amtszimmer des Superintendenten verließ, fand sie Hugh Mahan im Vorraum. Er hatte also den Wink des Superintendenten verstanden und auf sie gewartet.

      »Ich verständige den Rektor der 3. Tagesschule«, sagte sie, eine Nuance freundlicher, als für Amtssprache üblich. »Suchen Sie übermorgen das Rektoratssekretariat auf, um 7 Uhr 30; man wird Sie einweisen. Sie wohnen vorläufig im Internat, die Lehrerhäuser sind alle belegt.«

      »Ja.«

      Der Indianer setzte den Cowboyhut wieder auf und schickte sich an, das Dienstgebäude zu verlassen. Er machte mit dem Fuß eine kleine Bewegung, als ob er etwas austrete, vielleicht den letzten Funken einer Zigarette, die ein alter zahnloser Indianer hier unerlaubterweise geraucht und weggeworfen hatte. Miss Bilkins schaute ihm dabei zu und erschrak ohne sichtlichen Grund plötzlich derart, dass sie beschloss, das Mittagessen zusammen mit ihrer Kollegin Carson vom Wohlfahrtsdezernat einzunehmen und sich bei ihr auszusprechen.

      Mrs Kate Carson, Witwe, blondiert, füllig, aber nicht dick, war bei allen Kollegen beliebt, bei ihren Vorgesetzten jedoch weniger. Als Miss Bilkins mit roten Flecken auf den Wangen bei ihr im Dienstzimmer erschien, schloss sie Dienstgeschäfte und Schubfächer sofort ab und lud Eve zum Mittagessen bei sich zu Hause ein.

      Kate Carson bewohnte das kleinste der Beamtenhäuser in der Agentursiedlung und hatte es, von der Regel abweichend, nach eigenem Geschmack eingerichtet.

      Bei Tee, Aufschnitt, Butter und Toast glättete sich Eves Miene wieder; ihr Puls beruhigte sich. Als Kate Carson sich hiervon überzeugt hatte, stellte sie die Frage, auf die Eve mit Ungeduld wartete. »Was hat es gegeben? Ärger mit Carr?«

      Eve Bilkins nahm, entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, Milch in den Tee.

      »Ja, auch das, Kate. Ärger mit diesem Mann, der alles besser weiß und in mein Ressort hineindirigiert. Ich soll eine Beurteilung, die ich abgegeben habe, nachträglich ändern! Wie ein Schüler seine fehlerhafte Schulaufgabe. Einfach unerhört. Aber lassen wir das. Was mich aus der Fassung gebracht hat, ist etwas ganz anderes. Ich meine …«

      »Ja?« Kate Carson nahm aus Versehen ein zweites Stück Zucker in den Tee, mochte es nicht wieder herausfischen und trank vorsichtig von oben ab, da alles Süße ihre Figur aus der Form bringen konnte.

      »Kate … ich sehe wahrhaftig nicht bei Tage Gespenster. Aber dieser Hugh Mahan – nein. Sie haben keine Ahnung, wer das ist. Fünfundzwanzig Jahre, College-Abschluss mit besonderer Belobigung. Die gleiche Bildung wie unser Superintendent. Also dieser Mahan – als er leise, leicht und stillschweigend mit dem linken Fuß irgendetwas zertrat – vielleicht einen letzten Zigarettenfunken oder mich oder Carr oder die Verwaltung überhaupt oder in Wahrheit den letzten Funken seines Selbst – oder sein bisheriges und zukünftiges Gefangenenleben im Schulinternat, im College und künftig wieder im Schulinternat – als Erzieher für die Schulanfänger –«

      »Eve! Sie überraschen mich. Wieviel Einfühlungsvermögen entwickeln Sie für indianische Denk- und Ausdrucksweise! Vor Jahren gab es das bei Ihnen nicht. Aber weiter. Was geschah mit Mahan?«

      »Er war plötzlich ein anderer. Groß, schlank, von dieser merkwürdigen Elastizität in jeder Bewegung, wie sie die Raubkatzen haben. Langschädel, Adlernase, mager, die Lippen geschlossen. Also wer ist das, Kate?«

      »Joe King. Fehlten nur Pistole, Stilett, Jagdgewehr, Lasso und irgendein unbändiger Hengst.«

      Eve Bilkins ließ sich selbst mit einem Seufzer zusammenfallen.

      »Kate, ich bin nicht hierher gekommen, um mir Ihren Spott anzuhören.«

      »Aber Eve! Was ist überhaupt los? Warum sollen sich zwei Indianer nicht ähnlich sehen?«

      »Still, still, Kate, ich weiß alles, was Sie zu sagen haben. Ich kann Ihnen sogar noch mehr verraten. Die